Vom Lesen zum Leben

Philippus als „Bibel-Scout“ - ein Beitrag von Thomas Söding, Ordinarius für „Neues Testament“ an der Ruhr-Universität Bochum

Die Begegnung von Philippus mit dem äthiopischen Beamten wird zu einer Lesereise, die mit der Taufe des Äthiopiers endet. (Darstellung von Christoph Krafft, 1650, St. Paul i. L. - Foto: G. Sitar)
Die Begegnung von Philippus mit dem äthiopischen Beamten wird zu einer Lesereise, die mit der Taufe des Äthiopiers endet. (Darstellung von Christoph Krafft, 1650, St. Paul i. L. - Foto: G. Sitar)

Lukas erzählt in der Apostelgeschichte, wie Philippus, einer der Sieben, die in Jerusalem die Apostel entlasten sollten, von Gottes Geist dazu geführt wird, auf den Reisewagen eines äthiopischen Beamten zu springen, der auf dem Rückweg von einer Pilgerfahrt nach Jerusalem ist (Apg 8,26- 40). So entwickelt sich eine Lesereise, die mit der Taufe des Äthiopiers endet und dann ins Leben weiterführt. Lesen und Hören, Staunen und Glauben sind die wichtigsten Etappen.

Schriftzeichen und textliche Laute

Die Geschichte beginnt, weil Philippus den Mann lesen hört. Das ist nicht ungewöhnlich, weil man in der Antike – anders als heute – meist laut gelesen hat, auch für sich selbst. Augustinus erklärte zwar, als man ihn erstaunt fragte, warum er die Bibel leise lese, sich so besser konzentrieren zu können; aber das Sehen der Schriftzeichen und das Hören der textlichen Laute vermögen einander auch zu verstärken.

Hörer des Schriftwortes

Weil er hört, was der Mann liest, kann Philippus ein Gespräch beginnen. Er, der Evangelist, ist zuerst ein Hörer des Wortes – und zwar des Schriftwortes, wie es der Kämmerer intoniert. Ob er die Bibel auf Hebräisch oder auf Griechisch gelesen hat, bleibt offen. Philippus hat beide Sprachen gesprochen. Dass der Äthiopier, ein Spitzenbeamter, Jesaja liest, weist ihn als Gottesfürchtigen aus. Da er Eunuch ist, kann er nicht im Vollsinn zum Judentum übertreten; aber die Wallfahrt und die Schriftlesung zeigen, wie positiv er dem Glauben Israels gegenübersteht.

Frage und Gegenfrage

Das Gespräch beginnt mit einer Frage und einer Gegenfrage. Philippus fragt: „Verstehst du auch, was du liest?“ Der Äthiopier fragt zurück: „Wie könnte ich es, wenn mich niemand anleitet?“ (Apg 8,30-31). Beide Fragen zielen ins Schwarze. Philippus nimmt einen genuinen Impuls der Bibel auf: Lesen will verstehen (vgl. Mk 13,14). Nicht die pure Rezitation, sondern die Interpretation ist gefragt. Denn es kommt darauf an, das Wort der Heiligen Schrift mit dem eigenen Leben zu verbinden: als Wort Gottes, das tröstet und befreit.

Viele Deutungen

Ebenso gut ist aber auch die Replik: Ohne eine gute Anleitung wird es schwer, sich zurechtzufinden. Die Bibel hat viele Seiten; sie kennt viele Deutungen. Das richtige Verständnis zu finden, ist nicht einfach. Es braucht gute Wege des Verstehens, die in der Heiligen Schrift Orientierung schaffen, aber auch im eigenen Leben. Es braucht Menschen mit Erfahrung im Hören und Lesen der Bibel, die das Staunen nicht verlernt haben und zum Glauben gekommen sind.

Himmlische Höhen

Philippus lässt sich die Gelegenheit nicht entgehen, den Weg des Verstehens zu bahnen. Der Kämmerer hat aus dem Jesajabuch das Vierte Lied vom Gottesknecht gelesen; es handelt von einem Gerechten, der auf Gewalt nicht mit Gegenwalt reagiert, sondern alles auf Gott setzt, der ihn aus den Tiefen des Todes befreit und zu sich nimmt in die himmli - schen Höhen (Jes 53,7-8).

Gegenfrage und Antwort

Wie scharfsinnig der Äthiopier ist, zeigt sich an seiner nächsten Frage: „Ich bitte dich, von wem sagt der Prophet dies? Von sich selbst oder von einem anderen?“ (Apg 8,34). Die Antwort ist wesentlich; denn es ist dem Leser klar geworden, dass die Bibel nicht von einem Helden der Vergangenheit spricht, sondern vom Retter, dem er sein Leben anvertrauen will. Bis heute ist die Frage aktuell, auch in der wissenschaftlichen Exegese.

Jesus prägt ein eigenes Original

Philippus gibt keine platte, sondern eine tiefe Antwort. Platt wäre die Auskunft: Der große Unbekannte ist Jesus. Dann bliebe kein Platz für eine jüdische Lektüre des Jesajakapitels. Es gäbe auch keine Spielräume des Verstehens, in denen erst der Lebenssinn des Schrifttextes gefunden werden kann. Die Antwort des Philippus, von der Lukas erzählt, ist aber tief: „Ausgehend von diesem Schriftwort verkündete er ihm das Evangelium von Jesus“ (Apg 8,35). Zum einen unterstellt sie nicht, Jesus habe sich als leidenden Gottesknecht gesehen oder Jesaja habe bereits Jesus von Nazareth prophezeit. Die Bezüge sind offener und dichter zugleich. Jesus kann ohne Jesaja gar nicht verstanden werden; aber Jesus folgt nicht einem vorgestanzten Muster, sondern prägt ein eigenes Original.

Reden und Deuten des Glaubens

Zum anderen zeichnet die Antwort einen Weg des Verstehens vor, den die Bibel selbst bahnt. Er führt mit dem Text über den Text hinaus ins wahre Leben: vom Buch des Propheten Jesaja zu Jesus von Nazareth, vom Lesen und Hören zum Reden und Deuten des Glaubens, von der Auseinandersetzung mit der Tradition des Gottesvolkes zur Entscheidung für das eigene Leben.

Antwort und neue Frage

Die Antwort, die Philippus auf die erneute Gegenfrage des äthiopischen Kämmerers gibt, führt zu dessen erneuter Frage, als sie auf dem Weg in die Heimat und auf dem Weg des Verstehens ein Stück vorangekommen sind: „Siehe, hier ist Wasser! Was steht meiner Taufe noch im Weg?“ (Apg 8,38). Die neue Antwort auf die neue Frage lautet: Nichts. Denn der Heilige Geist hat seine Entscheidung schon getroffen: im interessierten Lesen und inspirierten Deuten. Deshalb kommt es zur Taufe: „Philippus und der Kämmerer stiegen in das Wasser, und er taufte ihn.“ Einigen geht diese Reise wohl etwas zu schnell. Deshalb gibt es Handschriften, die noch eine Sicherheitsklausel einbauen: ein kleines Glaubensexamen. Philippus fragt: „Glaubst du von ganzem Herzen? So kann es angehen.“ Und der Äthiopier antwortet: „Ich glaube, dass Jesus der Sohn Gottes ist.“ Die Ergänzung drückt aus, was in der ursprünglichen Erzählung angelegt ist: Glaube, der verstehen will, ist entstanden; die Taufe ist die logische Konsequenz.

Neue Frage und neues Leben

Noch einmal schreitet der Heilige Geist in der Erzählung ein: Er trennt die beiden und lässt sie ihrer Wege ziehen. Der Äthiopier sieht Philippus nicht mehr. Er setzt seinen eigenen Weg fort, „voll Freude“ in die Heimat, wo er bis heute der Vorbote der Kopten ist, der christlichen Minderheit in Ägypten. Aber auch mit Philippus hat Gott noch mehr vor. Er „wurde in Aschdod gesehen“ (vgl. Apg 8,40) und zieht weiter durch Judäa – unterwegs im Auftrag des Herrn. Das Lesen endet – das Leben geht weiter. Das Leben ist kurz – das Lesen zeigt, wo es langgeht.

  • Erstveröffentlichung dieses Beitrages von Thomas Söding in: „Lebensbuch Bibel“ , Jahrbuch der Diözese Gurk 2020, (Redaktion: Pressestelle der Diözese Gurk).