Von der Gottverlassenheit zur Gottesgewissheit

Wie und wozu Jesus gestorben ist

von Mag. Klaus Einspieler

„Auferstandener und Weltenrichter“, Engelkapelle der Benediktinerabtei Seckau, Ausschnitt aus dem Freskenzyklus „Seckauer Apokalypse“, Herbert Boeckl, 1952 – 1960). (© Foto: Abtei Seckau/P. Severin Schneider)
„Auferstandener und Weltenrichter“, Engelkapelle der Benediktinerabtei Seckau, Ausschnitt aus dem Freskenzyklus „Seckauer Apokalypse“, Herbert Boeckl, 1952 – 1960). (© Foto: Abtei Seckau/P. Severin Schneider)

Wenn jemand wie Jesus in der Blüte seines Lebens stirbt, noch dazu eines gewaltsamen Todes, stellt sich unweigerlich auch die Frage nach dem „Warum“ und „Wozu“. Eines der ältesten Zeugnisse über den Tod Jesu ist ein Glaubensbekenntnis, das der Apostel Paulus den Korinthern zitiert. Darin heißt es: „Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift, und ist begraben worden“ (1 Kor 15,3-4). Zunächst fällt auf, dass hier nicht von Jesus, sondern von Christus die Rede ist. Der Gekreuzigte ist der Messias (Christus)! Der Gesalbte Gottes kommt nicht als Herrscher im herkömmlichen – seine Herrschaft zeigt sich am Kreuz. Jesus ist als Spottkönig gestorben: mit Dornen gekrönt, einem Purpurmantel verhüllt, zwischen zwei Verbrechern – wie ein „König“ von einer Leibgarde umgeben, über seinem Kopf der Königstitel. Woraus sich die Henker offensichtlich einen Spaß gemacht haben, bringt jedoch für die Jünger Jesu das Wesen seiner Sendung zum Leuchten. Jesus hätte sich seiner Verhaftung im Garten Getsemani ohne große Schwierigkeiten durch Flucht entziehen können. Er konnte dem Tod aber nicht entgehen, weil er für unsere Sünden gestorben ist. Sein Sterben entspringt einer inneren Notwendigkeit. Diese Deutung ist offensichtlich Urgestein christlichen Glaubens.

Jesu Vorangehen auf dem Weg zur Versöhnung

Dies führt uns zur schwierigen Frage, warum ein Unschuldiger zur Sühne für andere sterben muss. Die Welt, in der wir leben, macht es uns nicht leicht, dies zu erfassen. Unsere Vorstellung von Sühne ist, dass jemand seine Schuld durch eine Leistung begleicht. Diese Auffassung kann im Blick auf den Tod Jesu zum fatalen Missverständnis führen, er habe den Sinn gehabt, einen zürnenden Vatergott zu besänftigen. So denkt die Bibel jedoch nicht. Die Sühne geht von Gott, nicht vom Menschen aus. Er schenkt in Stunden der Schuld und des Scheiterns Leben und Neubeginn. Man könnte nun fragen, ob Gott nicht auch auf andere Weise hätte vergeben können, etwa durch eine Zusage oder ein prophetisches Wort. Dabei wird jedoch ein wesentlicher Punkt übersehen. Trotz der Vergebung bleiben die Folgen der Schuld bestehen. Sie belasten oft noch viele nachfolgende Generationen – man denke z. B. an den Zweiten Weltkrieg. Es bedarf also der Versöhnung. Sie besteht darin, dass der Geschädigte bereit ist, an der Schuld des Täters mitzutragen. Genau dies ist am Kreuz geschehen. Jesus als Getaufter nachzufolgen, heißt, als jemand, der selbst erlöst worden ist, diese Befreiung auch im Blick auf andere zu leben und so den unheilvollen Zusammenhang von Schuld und Vergeltung zu durchbrechen. Der stellvertretende Tod Jesu ist also ein Vorangehen auf dem Weg der Versöhnung. Er dispensiert uns nicht davon, sondern ermöglicht und ermächtigt uns, in diesem Sinne zu leben.

Markus: Die Gottverlassenheit des Gekreuzigten

Wenden wir uns nun den Evangelien zu. Als das erste Evangelium, jenes nach Markus, vermutlich um das Jahr70 geschrieben wurde, hat der Autor bereits auf eine sehr alte Erzählung des Leidens Jesu zurückgreifen können. Im Gegensatz zu manchen modernen Filmen und Passionsbildern starrt er nicht gebannt auf die Details der grausamen Folter. Über die Art der Geißelung und Kreuzigung erfahren wir nichts. Umso eindringlicher zieht sich das Motiv der Verspottung durch die ganze Leidensgeschichte: durch den Hohen Rat und die Diener, die Soldaten, Passanten, die Hohenpriester und nicht zuletzt durch die mitgekreuzigten Verbrecher. Am Ende des Spottes steht der einzige Satz, den Jesus spricht: „Eloi, Eloi, lema sabachtani?“ –„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Ps 22,2). Generationen von Christen ringen seither um das rechte Verständnis dieser Worte. Die einen sagen, es ist der verzweifelte Schrei eines Sterbenden. Jesus erleidet in seiner Todesstunde wie der Beter aus dem Buch der Psalmen Bedrängnis, Gottverlassenheit und Finsternis. Wo ist Gott angesichts des Leidens seines Freudenboten, der Zeit seines Lebens in Wort und Tat das Reich Gottes verkündet hat?

Not der Sterbenden nicht verharmlosen

Jesus ist auch als Mensch gestorben und hat wie wir in das gähnende Nichts der Todesnacht geschaut. Daran liegt viel Wahres. Die Botschaft von der Auferstehung darf das Leid und die Not des Sterbenden nicht verharmlosen. Der Tod ist die letzte und größte Erprobung unseres Glaubens. Jesus hält wie einst Abraham auf dem Berg Morija, wo er seinen Sohn hätte als Opfer darbringen sollen, an seinem Gott fest, auch wenn Dunkelheit sein Antlitz verhüllt. Doch auch eine zweite Deutung ist möglich: Jesus hat nur den Beginn des Gebets, dem seine letzten Worte entnommen sind, laut gesprochen. Gemeint ist aber der ganze Psalm. Für das Verständnis der Passion ergäbe sich daraus eine völlig andere Perspektive. Am Ende des Psalms bekennt nämlich der Beter, dass seine Leidensgeschichte in die Rettung durch Gott mündet. Sie wird zum Angelpunkt der Hoffnung für alle Völker und Generationen. So bleibt der Tod Jesu bei Markus ein großes Geheimnis.

Lukas: Die Kraft der Vergebung

Während sich Matthäus relativ genau an der Darstellung des Markus orientiert, hat Lukas neue Züge in seine Erzählung eingeführt. Das Schweigen Jesu im Leiden wird durchbrochen. So steht zu Beginn der Kreuzigung das Wort: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“(Lk 23,34). Mit ähnlichen Worten stirbt wenig später Stephanus, der erste Märtyrer (Apg 7,60). Das Leiden Jesu ist also zum Urbild des christlichen Martyriums geworden – Vergebung statt Vergeltung. So hat Jesus seine Jünger schon im Vaterunser gelehrt zu beten: „Und erlass uns unsere Sünden; denn auch wir erlassen jedem, was er uns schuldig ist“ (Lk 11,4). Mit seiner Art zu sterben setzt Jesus somit das einzige Gebet, das er seine Jünger gelehrt hat, ins Recht.

Dank für die Auferstehung

War es dieses Wort der Vergebung, das den einen Schächer veranlasst hat zu bitten: „Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst“ (Lk 23,42)? – Ein wunderbares Sterbegebet, das Christen des Ostens auch auf dem Weg zur Kommunion sprechen! Jesus verheißt ihm: „Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“ (Lk 23,43). Am Kreuz beginnt also die Rückkehr Adams ins Paradies. Dies wird an der Geschichte vom Schächer deutlich, den der Glaube quasi in der letzten Stunde dem Rachen des ewigen Todes entrissen hat. Schließlich lässt auch der Evangelist Lukas Jesus mit einem Psalm auf den Lippen sterben. An die Stelle des mehrdeutigen Rufes bei Markus tritt jedoch das vertrauensvolle: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“ (Lk 23,46). Der Psalm 31, dem dieses Wort entnommen ist, setzt fort: „Du hast mich erlöst, Herr, du treuer Gott“ (Ps 31,6). So klingt im Sterben Jesu bereits der Dank für die Auferstehung an.

Johannes: Die Hingabe am Kreuz als Vollendung

Der Evangelist Johannes setzt schließlich in seiner Passion einen völlig neuen Akzent. Der Tod Jesu ist sein Heimgang zum himmlischen Vater, daher wird er als „Erhöhung“ bezeichnet. Die letzten Worte Jesu lauten: „Es ist vollbracht!“ (Joh 19,30). Im griechischen Urtext wird deutlich, dass Johannes damit den Bogen zum Beginn des Abschiedsmahles Jesu spannt. Dort heißt es: „Da er die Seinen, die in der Welt waren, liebte, erwies er ihnen seine Liebe bis zur Vollendung“ (Joh 13,1). Die Hingabe Jesu findet in seinem Tod am Kreuz ihre Vollendung. Es ist die Stunde Jesu, in der die Liebe Gottes zu der von Sünde und Schuld zerrütteten Welt sichtbar wird. Ihretwegen gibt Gott seinen einzigen Sohn hin, damit jeder, der an ihn glaubt, das ewige Leben hat (Joh 3,16). Um diese Botschaft verständlich zu machen, bezeugt Jesus am Abend vor seinem Leiden: „Mich werdet ihr allein lassen. Aber ich bin nicht allein, denn der Vater ist bei mir“ (Joh 16,32). Auf eigene Art dem Gekreuzigten nachfolgen. In der Karfreitagsfeier der Jerusalemer Urkirche wurden alle vier Leidensgeschichten Jesu gelesen. So konnten die Gläubigen Jahr für Jahr erleben, wie die Gottverlassenheit des Gekreuzigten im ersten in die Gottesgewissheit des Erhöhten im vierten Evangelium gewandelt wird. Wir können daraus lernen, dass sich jeder von uns, ob er nun in Angst und Pein oder friedlich und vertrauensvoll stirbt, mit dem Gekreuzigten vereinen und ihm auf seine Art nachfolgen darf. |

Autor: Mag. Klaus Einspieler (Referent für Bibel und Liturgie der Diözese Gurk)
Erstveröffentlichung in: "Lebensthema - Sterben", Jahrbuch der Diözese Gurk 2016, (Redaktion: Pressestelle der Diözese Gurk).