Warum die Klagelieder?

Gegenfrage: Warum nicht?

Erich Zenger nennt es den "kleinen Psalter", das verhältnismäßige schmale Buch der Klagelieder im Alten Testament. Warum es sich lohnt dieses zu lesen und gar ein Bibelseminar darüber zu machen verrät Dr. Herta Klein.

Gegen eine Wand anrennen, klagen, das Gefühl des Getrennt seins von Gott  - die Klagelieder zeigen zutiefst menschliche Ängste und Ohnmacht (© Foto: fotomax-internetredaktion)
Gegen eine Wand anrennen, klagen, das Gefühl des Getrennt seins von Gott - die Klagelieder zeigen zutiefst menschliche Ängste und Ohnmacht (© Foto: fotomax-internetredaktion)

Warum die Klagelieder?

Die Frage wurde öfters gestellt, die Antwort ist einfach. „Da fallen mir nur noch die Klagelieder ein“ war die, zugegeben, flapsige Antwort auf eine Anfrage des KAV nach Fortsetzung des Wissenschaftlichen Bibelseminars in dem für die Institution Kirche tristen Jahr 2010. Bei näherem Hinsehen erwies sich die Wahl als schwierig und treffend zugleich. Schwierig, weil in dem schmalen Buch der 5 Klagelieder, von Erich Zenger einmal als „Kleiner Psalter“ bezeichnet, die ganze Fülle biblischer Themen und Fragen steckt; treffend, weil viele der Fragen noch immer aktuell sind - wie sie es immer schon und immer wieder waren in Zeiten von Verunsicherung und Umbruch.

Ausgangspunkt war die vom protestantischen Alttestamentler Claus Westermann konstatierte Abwertung bzw. Ausblendung der Klage in der christlichen Tradition und Karl-Josef Kuschels Anmerkung, dass die biblischen Traditionen von Klage und Anklage im AT in der Moderne erst „atheistisch zugespitzt werden mussten, bevor sie innerkirchlich Gehör fanden“. Nach Georg Büchner ist aber der Schmerz „der Fels des Atheismus“. Und im Schmerz, in der Klage erhebt sich die Frage nach dem Warum (warum leide ich?) und die Anklage (wie konnte Gott es zulassen?), also die sog. Theodizeefrage: Woher das Böse, das Übel, wenn der eine allmächtige, gute und gerechte Schöpfergott doch für „alles“ zuständig ist? Die diversen philosophisch-theologischen Antwortversuche sind im Verlauf der Geschichte oft genug mit „einem schweren Realitätsverlust“ (Claus Westermann) für das Reden von und zu Gott bezahlt worden. So haben auch die Klagelieder, in denen die Traumata der geschichtlichen Katastrophe von 587 verdichtet „aufgearbeitet“ wurden, eine dem jeweiligen Vorverständnis entsprechende und sehr widersprüchliche Auslegung erfahren, in der man sich am ehesten noch über ihre hohe literarische Qualität einig ist.

Die gemeinsame Lektüre hielt sich daher, mit gelegentlichen Exkursen, eher assoziativ an jene Fragen und Vorstellungsbilder, die uns auch heute noch umtreiben können: Jedoch im Kontext der zahlreichen Bezüge und Verweise auf die Propheten (Jer., Ez., Dt.-Jes.), die Psalmen, auf das Buch Hiob und die ganze Schrift Israels und mit Blick auf das nachexilische Geschichtsbild und seine theologischen Schwerpunkte wie Gerechtigkeit/Gericht, Umkehr, Gottvertrauen und Tun des Gesetzes. Die Brücke zur Gegenwart schlugen literarische Texte von Heinrich Heine (Lamentationen, Zum Lazarus, Spätere Note 1854), Fjodor Dostojewski, Elie Wiesel, Primo Levi und Elazar Benyoetz, oder auch Magazin- und Zeitungsartikeln des Jahres 2010. Aufgegriffene Themen waren u. a. biblische und moderne Gottesbilder, die anthropomorphe Redeweise der Bibel („Zorn Gottes“), die „Berechtigung“ von Protest und Gottesanklage angesichts der katastrophalen Unglücksgeschichte der Menschheit, verschuldet oder nicht, Gewalterfahrungen, Feindbilder und Vergeltungswünsche, Schuldzuweisung und Schuldeinsicht, das paradoxe Verhältnis von Glauben, Zweifel und Hoffnung oder Brüche und Widersprüche (z. B. zwischen Auflehnung und Ergebung) in den Liedern selbst, die ja als Dichtung Ausdruck der ganzen Bandbreite menschlicher Gefühle sind und eben nicht dogmatische Lehre.

Klage und Anklage haben ihren Platz und ihr Recht in der biblischen Tradition

Deutlich wurde: Klage und Anklage haben ihren Platz und ihr Recht in der biblischen Tradition, als eine Weise von und zu Gott zu reden. Hier wird nichts verdrängt, weder Wut, noch Angst, noch Aggression, kein Widerspruch, kein Zweifel, keine Enttäuschung, nichts, was im Menschen ist; dies alles wird ihm vorgebracht, ihm vorgehalten, damit er sieht und hört und sich nicht länger abwende und verberge. Klage also und Anklage gegen Gott, aber vor Gott, ernsthafte Auseinandersetzung mit „einem wirklichen, persönlichen Gotte, der außerhalb der Natur und des Menschengemütes ist“(Heine). Ein Gott, der „zu helfen vermag“, der in all seiner Unbegreiflichkeit (nach unseren Maßstäben ist er nicht zu rechtfertigen) vorausgesetzt wird, in der Hoffnung, dass er selbst sich „rechtfertigen“, den Leidenden in sein Recht setzen und dem Klagenden und Anklagenden Aufschluss geben wird über die „verdammten Fragen“(Heine), die bis dahin offen bleiben müssen. Denn, wie E. Benyoetz einmal sagt: „Aus, durch, mit Gott etwas erklären zu wollen, heißt sich seiner zu bedienen.“ Und: „Nicht der Glaube, der Zweifel macht uns hoffen“.