Österlich leben

Eine Aufforderung, sich auf dem Feld der Gottessehnsucht mutig des eigenen Verstandes zu bedienen.

von Johannes Röser

Der Theologe und Journalist Johannes Röser fordert die Christen auf, sich auf dem Feld der Gottessehnsucht mutig des eigenen Verstandes zu bedienen. (© Foto: KH Kronawetter / Internetredaktion)
Der Theologe und Journalist Johannes Röser fordert die Christen auf, sich auf dem Feld der Gottessehnsucht mutig des eigenen Verstandes zu bedienen. (© Foto: KH Kronawetter / Internetredaktion)
CIG-Chefredakteur war Hauptreferent beim Studientag ZEIT::ZEICHEN am 3. April 2014 im Bildungshaus Stift St. Georgen (© Foto: KH Kronawetter / Internetredaktion)
CIG-Chefredakteur war Hauptreferent beim Studientag ZEIT::ZEICHEN am 3. April 2014 im Bildungshaus Stift St. Georgen (© Foto: KH Kronawetter / Internetredaktion)

Im Gegensatz zum bereits sprichwörtlichen Wellness-ummantelten behaglichen Weihnachtschristentum findet das ursprüngliche Osterchristentum mit seinem „abstrakten“ Glauben an die Auferweckung Jesu Christi und der Hoffnung auf die Auferstehung von den Toten keinen Halt in der Lebens- und Naturerfahrung. Wer hätte je gesehen, dass ein Toter zum Leben aufersteht! So ist Ostern ein „komplizierter Fall“ für eine natürliche Theologie, die an Erfahrungen des Alltäglichen anknüpft. Weihnachten dagegen fällt alles sehr viel leichter. Die Feier der Ankunft des Logos, des Gottes- und Menschensohnes auf Erden hat – wenn auch von Nichtglaubenden als bloßer Mythos wahrgenommen – wenigstens Teil an den universalen Geburtserfahrungen der Menschheit. Weihnachten kann so auch für religiös nicht Ergriffene ein Fest des Wunders des Lebens und der tiefsten menschlichen Rührung werden – angesichts einer andauernden Erneuerung durch Fortpflanzung von Generation zu Generation. Die Menschwerdung Gottes lässt sich auch feiern als archetypische Menschwerdung des Menschen, mit allen Gefühlen der Betroffenheit – bis hin zum biologischen Kindchenschema, in dem das Neugeborene als hilflos, süß, unschuldig, rein liebenswert erscheint und unsere Beschützerinstinkte weckt. Als kollektiv inszeniertes Familienfest hat Weihnachten in unseren kulturellen Breiten nicht ohne Grund den höchsten Rang bekommen als Fest aller Feste. Sogar die Zeit steht dann für ein paar Tage still. Nichts rührt sich. Die übliche Geschäftigkeit muss warten.

Der Auferstehungsglaube unterbricht die Kreisläufe von Zeit und Raum

Aber für Ostern gilt das nicht. Für die meisten Menschen ist das kein Fest beschaulicher Ruhe, sondern höchster Mobilität. Mit dem weltlichen Frühlingserwachen beginnt die neue Reisesaison. Nicht die gemütlich bequemen Nesthocker, sondern die aktionsfreudig geladenen Nestflüchter sind jetzt gefordert. Zum religiösen Gehalt von Ostern stellt sich – anders als Weihnachten – so gut wie keine natürliche Brücke her. Denn der Gedanke des ewigen Kreislaufs der Natur und ihres steten Wiedererwachens im regelmäßigen Rhythmus hat mit dem christlichen Auferstehungsglauben, der die Kreisläufe von Zeit und Raum und damit auch des Lebens der Menschheit ein für alle Mal unterbricht, nichts gemein.

Aber auch die Gläubigen haben ein Problem der Veranschaulichung. In der Passion Christi finden sie wenigstens noch Spiegelbilder für die Leidenswege der Menschen: Schmerz, Erniedrigung, Verhöhnung, Tod. Das ist ein Stoff, der uns Tag für Tag erregt. Aber es ist nicht der Stoff zum Feiern oder gar Träumen. Nein, die Natur hat Ostern nicht vorgesehen. Hier finden sich keine Entsprechungen. Ostern ist und bleibt einzigartig, singulär, ohne Parallele, nicht nur in der Religions-, sondern auch in der menschlichen Erfahrungsgeschichte. Ein sperriges, ein widerspenstiges, ein ungemütliches Datum – wider Biologie wie Anthropologie. Dennoch markiert es den Dreh- und Angelpunkt christlichen Gottes- wie Weltverständnisses.

Der österliche Christusglaube ist ein Quantensprung

Mit dem österlichen Christusglauben haben die Jüngerinnen und Jünger Jesu einen historischen Quantensprung im Bewusstsein vollzogen – von anschaulich-mythologischen Sichtweisen hin zu unanschaulich-mystischen, von diesseitigen Gottesbildern zu transzendenten Gottesbildern, vom Konkreten zum Abstrakten, vom Begreifbaren zum Unbegreifbaren, von der Geschichtlichkeit zur Ewigkeit, vom Staunen zum Denken, vom schauenden Glauben zum glaubenden Reflektieren, von der spirituellen Behaglichkeit zur religiösen Provokation, von der Heimeligkeit zur Unheimlichkeit, vom Kinderglauben zum Erwachsenenglauben, von der Eindimensionalität zur Mehrdimensionalität, von anthropomorph-einfachen zu paradox-universalen Heilsvorstellungen.

Christsein erweist sich ab diesem Augenblick als schwierig – und anspruchsvoll. Das gehört zur Geburtsurkunde dieses vor 2000 Jahren gestarteten neuen Glaubenswegs. Er erschöpft sich nicht darin, moralische oder philosophische Allerweltsweisheiten mit einem gewissen religiösen Offenbarungs-Überbau zu versehen. Das Christentum begann unplausibel, verstörend, alltagsuntauglich. Es verstand sich schon damals nicht als weltlich-naturale Wellnessreligion zur Hebung allgemeinen Wohlbefindens. Es war auch keine agrarische Opferkult-Religion zur Sicherung von Nahrung und Überleben einer Sippe oder eines Stammes. Vielmehr wurde das „Opfer“ Jesu Christi am Kreuz gleich universal gedeutet – und extrem abstrakt: nicht um damit im Gegenzug weltlich-dingliche Güter von der Gottheit zu bekommen, sondern als Befreiung der Menschen von Sünde und Schuld, als Hingabe an die Menschen „aus Liebe“. Der „Mehrwert“ dieses Geschehens erschöpft sich nicht in ein bisschen besserem Leben hier, sondern zielt auf ein ganzes Leben, das ganz andere Leben – vor Gott, auf Gott hin, bei Gott. Damit verbunden ist eine Sprache und Bildhaftigkeit, die alle üblichen Bilder der Anschaulichkeit sprengt.

Kein Jubel, sondern Erschrecken - Begegnungen mit dem Auferstandenen

Die österlichen Geschehnisse werden bereits in der frühen Überlieferung recht verschieden und widersprüchlich geschildert. Die Begegnungen mit dem Auferstandenen – sogenannte Erscheinungen – lassen sich nicht harmonisieren. Die davon Betroffenen trifft es heftig, unvorbereitet, unerwartet, ganz anders als man sich „wunderbare“ Ereignisse vorstellen würde: statt Freude blankes Entsetzen, statt Jubel Erschrecken, statt frohlockendem Verkündigen introvertiertes Schweigen, statt ekstatischer Freude zögerliches Nachdenken, statt triumphalistischer Propaganda zweifelndes Meditieren. Mit einer solch vagen, erstaunlich unpraktischen „Religion“, wie sie aus der frühen Frohbotschaft der neutestamentlichen Schriften spricht, ist eigentlich keine Religion zu machen. Die österlichen Szenen wirken eher wie Anti-Szenen, kaum werbewirksam. Wir empfangen Signale voller Vieldeutigkeit: zusammengefaltete Leinentücher, ein weggerollter Stein, ein leeres Grab, wortkarge Engelfiguren, die wenig aufklären, indem sie erklären. Selbst Christi Auftreten wirkt „gespenstisch“. Wie ein Fremder bewegt er sich unter Bekannten oder auf Bekannte zu. Erst die Ansprache durch ein Wort wie bei Maria aus Magdala oder das Signal des Brotbrechens bei den Emmausjüngern weckt eine Art Schlüsselreiz und öffnet die – inneren – Augen. Diese Augen sehen den Auferstandenen paradoxerweise oftmals erst dann, wenn sie ihn fast schon wieder nicht mehr sehen, jenseits naturaler Sinnlichkeit. Eine seltsame Melancholie und Traurigkeit, Introvertiertheit und Zweifel begleiten den Osterglauben.

Die biblische Osterfreude wird erst allmählich geweckt

Der Glaube der ersten Zeuginnen und Zeugen beginnt nahezu wie ein „Anti-Glaube“. Er hat jedenfalls wenig gemein mit den späten Liedern, die selbstbewusst und siegesgewiss vom Triumphator Christus über den Tod singen. Die biblische Osterfreude wird allmählich und bedächtig geweckt. Sie kommt von einem anderen Sehen her, das sich erst durchs Diffuse, Widersprüchliche, Absurde durcharbeiten muss – auch durch eine widerspenstige Gefühlslage, durch eine ganz und gar „ungläubige“ Emotion. Das macht diese Art von Glauben so sympathisch unspektakulär, aber realistisch. Kann man solchem Glauben glauben?

Die christlich-österliche Haltung lebt trotz ihrer vielen emotional bewegenden Bilder aus einer tiefer greifenden Bildlosigkeit. Nicht aus der Wahrheit kommt solches Glauben, sondern zuerst und vor allem aus Wahrhaftigkeit. Der schwache Glaube weckt den Glauben. Der vage Glaube führt zum Glauben. Das ist die Lehre von Ostern, auch zwei Jahrtausende „danach“. Nicht die spektakulären konkreten Geschehnisse mit Jesus und um Jesus sind es, die den Christusglauben begründen. Es sind vielmehr die Deutungs- und Denkversuche, die durch den Zweifel gegangen sind und die die Möglichkeiten wie Unmöglichkeiten der praktischen Vernunft samt konventioneller Logik ausgelotet haben: „Mein Herr und mein Gott.“

Die Emotion Ostern beginnt still

Anders als die naturale „Weihnachtsreligion“ hat die „Osterreligion“ weit höhere Ansprüche. Auch die Osterfreude hat wenig Populäres an sich. Angesichts von Tod und – ewigem – Leben trägt jeder Einzelne seinen Kampf mit sich und mit Gott selber aus, stets einsam in der Gemeinschaft der Glaubenden. Niemand glaubt für mich. Das Kollektiv ersetzt das nicht. Wer auch immer den Stein vor dem Grab weggerollt hat: Nur ich selber kann eintreten, sehen – und glauben. Ostern ist anders. Die Emotion Ostern beginnt still. Die Nacht des Schweigens erst macht den Osterglauben wahr und die -Osterfreude hell.

Für die Kirche, für ein modernes, der Zukunft zugewandtes Glaubensbewußtsein wäre es bereichernd, sich in Verkündigung, Liturgie, Leben wieder auf das zu besinnen und zu konzentrieren, was die erregendste existentiellste Frage ist: der unmögliche Gott, der unmögliche Himmel, das unmögliche ewige Leben - als unsere letzte Möglichkeit und erste Hoffnung.

Der verstorbene polnische Philosoph Leszek Kolakowski meinte, das Christentum habe Zukunft, wenn es das Wort Gottes auf eine Art verkündet, die es lebendig werden läßt, die das Gewissen erreicht, Menschen erschüttert. Die Zukunft hängt - so Kolakowski - davon ab, jenes Wort durch Vorbild und Glauben zu öffnen, „insbesondere unter jungen und gebildeten Menschen“. Das Christentum werde „gerettet werden, aber Heilige, nicht Bürokraten werden es retten, gute Menschen, nicht aufgeblasene Hasser, verschiedene Gemeinschaften von Gläubigen, die sich am Rande der Kirche oder außerhalb -wenn auch nicht allzuweit weg - von ihr befinden“.

Die Gottesahnung braucht Resonanzräume

Über die Zukunft des biblischen Gottesglaubens entscheidet nicht ein optimierter Dienstleistungs-Betrieb Kirche, sondern die Fähigkeit, Blockaden innerster Wahrnehmung zu öffnen, abzubauen. Die Gottesahnung braucht Resonanzräume, Bewegungsräume, um sich auch sprachlich zu entwickeln und weiterzuentwickeln. Dazu muß jeder Einzelne Verantwortung wagen, heraustreten aus selbstverschuldeter religiöser Unmündigkeit, aus eigener Ignoranz und Bequemlichkeit. Jeder hat für sich selbst Mut zu gewinnen, sich auch auf dem Feld der Gottessehnsucht des eigenen Verstandes zu bedienen. Dann ist Christsein vielleicht nichts anderes als ein lebenslanges Ringen darum, den Gottesglauben nicht aufzugeben. Es ist wie bei Jakob ein ständiges Ringen mit Gott, ein Kampf um Gott. Das macht uns nicht immer glücklich. Aber es ist unser größtes Lebensglück.

* Johannes Röser ist Chefredakteur der Wochenzeitschrift CHRIST IN DER GEGENWART. Der Autor hat der Internetredaktion dankenswerterweise diesen Auszug aus einem seiner Referate beim Studientag ZEIT::ZEICHEN am 3. April 2014 im Stift St. Georgen zur Veröffentlichung zur Verfügung gestellt.