Glückliche Augen - Über Dankbarkeit und Schönheit
von P. Gustav Schörghofer SJ

Dankbarkeit setzt voraus, dass es jemand gibt, dem ich dankbar sein kann. Bin ich der Sonne dankbar, wenn sie in der Früh in mein Zimmer scheint? Oder bin ich im Frühling den Veilchen dankbar, wenn sie wieder blühen und duften? Bedanke ich mich beim Hund, wenn er den geworfenen Stock zurückbringt? Dankbar bin ich jemandem, der etwas für mich tut, der damit mein Leben bereichert. Dieses Tun darf auch nicht bloß zufällig sein, sozusagen passieren, sondern es muss aus freiem Willen bewusst geschehen. Mir wird der Hut vom Kopf geweht, und jemand fängt ihn auf und bringt ihn mir. Ich habe Geburtstag, und jemand kommt mit einem Blumenstrauß vorbei. Ich stehe im dunklen Hauseingang, und jemand schaltet für mich das Licht ein. Dann werde ich danken.
Die Sonne geht nicht für mich auf. Die Veilchen blühen nicht für mich. Der Hund bringt den Stock nicht für mich. Ober doch? Wäre es nicht sehr traurig, würde ich sagen: Für mich geht keine Sonne auf, für mich blüht keine Blume, für mich springt kein Tier? „Für mich“ kann auch eine andere Bedeutung haben als die, dass mich jemand anderer bewusst im Sinn hat. Es kann auch bedeuten, dass ich etwas zu schätzen weiß, dass ich mich darüber freue, dass ich etwas wahrnehme. Die Blumen blühen, die Sonne scheint, die Vögel singen – und das alles geschieht für mich. Ich nehme es wahr. Es ist meine Freude. Es erfüllt mich und macht mich dankbar.
Aufmerksam sein - Schönheiten entdecken
So ist es auch mit der Schönheit. Für mich ist die Welt schön. Das kann bedeuten: Ich lebe in einer schönen Umgebung, bin in der Gesellschaft vertrauter Menschen, habe gute Dinge im Überfluss, werde geschätzt, alles gelingt. Diese Welt ist entstanden durch das Ausklammern von allem, was nicht schön ist. Es kann aber auch bedeuten: ich lebe in der Welt wie sie ist, ich lebe aufmerksam in ihr und entdecke überall Schönheiten. Manche Menschen bewahren auch in der größten Not den Sinn für Schönheit. Sie entdecken Schönes dort, wo andere nur noch Elend sehen. Schönheit ist im Auge des Betrachters. Das kann auch als Beschönigen erscheinen. Es kann aber auch der Sinn für etwas sein, für das andere blind sind. Um dankbar zu bleiben, bedarf es dieses Sinnes.
„Ihr glücklichen Augen, / was je ihr gesehn, / es sei, wie es wolle, / es war doch so schön.“ Das Lied des Türmers in Faust II von Johann Wolfgang von Goethe kann verschieden gedeutet werden. Die einen sehen darin eine selektive Wahrnehmung. Man sieht nur, was einen freut, was schön ist, und alles andere wird verdrängt. Für andere ist das Lied Ausdruck eines Wirklichkeitssinnes, der vor nichts die Augen schließt und in allem den Schimmer einer tiefen Schönheit wahrzunehmen vermag. Wenn ich den Satz in diesem Sinn verstehe, dann frage ich mich, wie ich zu solchen „glücklichen Augen“ kommen kann.
Ich fange damit an, Schönes wahrzunehmen und zu genießen. Das Licht der Sonne, die Veilchen, das Singen der Vögel, das Springen der Tiere – all das kann ich ja leicht übersehen, als für mich unbedeutend abtun. Ich lasse es also für mich bedeutend werden. Das gleiche gilt für Musik, für Literatur, für Kunst. Ich kann mich in all dem auf die Suche nach dem Schönen machen. Und es gibt viel Schönes zu entdecken. Natürlich ist nicht jedes Kunstwerk hinreißend, nicht jede Musik wunderbar, nicht jedes Buch so, dass ich es am liebsten nicht mehr aus der Hand gäbe. Ich kann einmal mit jenen Dingen anfangen, die ich unmittelbar als schön empfinde. Ihnen schenke ich Zeit. Ich lerne sie genau kennen. Und dann achte ich darauf, was andere als schön empfinden. Es könnte ja sein, dass sie einen schärferen Blick, feinere Ohren haben. Es könnte sein, dass sie Schönheit dort entdecken, wo ich gar nichts sehe. Zugleich bemühe ich mich, den nüchternen Blick auf die Wirklichkeit einzuüben. Auch den kann ich von anderen lernen. Es gibt das Hässliche, es gibt das Langweilige, es gibt das Gemeine und das Widerwärtige. Die Gegenwart der Schönheit ist nicht selbstverständlich. Sie muss erkannt, zugelassen und gepflegt werden.
Jetzt könnte eingewandt werden: Das mag schon sein, es gibt unter anderem auch Schönes, aber dieses Schöne hat keine Kraft. Es behauptet sich nicht gegen das Hässliche, es wird schließlich doch überwältigt von Not, Elend und Tod. Die schönen Seiten des Lebens sind verglichen mit dem, was wir Tag für Tag erleben und erfahren, vernachlässigbar. Sie haben keine Bedeutung im großen Zusammenhang der Geschichte. Wer meint, das Leben sei schön, der erliegt einer Täuschung. Der macht einen Ausschnitt zum Ganzen, der sucht sich heraus, was ihm gefällt und lässt alles andere beiseite.
Die Schönheit ist im Auge Gottes
Die Wahrnehmung des Schönen kann meine ganz persönliche Sicht sein. Ich will die Welt schön, deshalb sehe ich sie so. Wenn ich bei dieser Sicht bleibe, dann werde ich entdecken, dass sie einer alten Tradition entspricht. Und wenn ich meine Betrachtung noch weiter vertiefe, dann entdecke ich, dass ich hier ein uraltes Thema der Religionen berühre. Juden und Christen vertrauen darauf, dass Gott die Welt gut und schön erschaffen hat. Die Güte Gottes wird in den Texten der Bibel immer wieder gepriesen. Wer genau liest, wird entdecken, dass es hier auch immer um Schönheit geht. Die Schönheit ist im Auge Gottes. Wenn er die Welt betrachtet, nimmt er ihre Schönheit wahr, vor allem die Schönheit. In seiner Grabrede für Reinhold Schneider sagt Werner Bergengruen über den verstorbenen Freund: „Er liebte die Menschen, und ungern urteilte er über sie. Goethe hat uns im Westöstlichen Diwan ein Gedicht es Persers Nisami überliefert: alle des Wegs Kommenden schelten auf das stinkende Aas des daneben liegenden Hundes, Jesus aber sagt nur: ‚Die Zähne sind wie Perlen weiß.’ Ich kann mich nie an dieses Gedicht erinnern, ohne das meine Gedanken sich augenblicks unserem Freunde zukehren. Wo er mit seinem scharfen Verstande, seiner Fähigkeit geschwinder und das Wesentliche erfassender Beobachtung niedrige Züge gewahrte, da hielt er sich, außer im allervertrautesten Gespräch und noch selbst in diesem, eher zurück, um dem Urteil Gottes nicht vorzugreifen.“
Hier ist sehr schön zusammengefasst, wie der schöpferische Blick eines Menschen seinen Grund hat im schöpferischen Blick Gottes. Und wie dieser Blick keiner Täuschung erliegt in der Wahrnehmung von Wirklichkeit. Er sieht Tatsachen, doch er ordnet sie anders.
Dankbarkeit erwächst aus der Wahrnehmung des Schönen. Ich kann diese Wahrnehmung üben. Ich muss es nur wollen. Dann wachse ich nach und nach in eine tiefe Dankbarkeit hinein. Denn es zeigt sich, dass Schönheit überall zu finden ist. Und diese Schönheit lässt sich von mir finden, sie strahlt für mich.
- Veröffentlicht mit freundlichen Genehmigung des Autors bzw, des Verlages. Erstveröffentlichung in: Gustav Schörghofer, danke.tausendmal. Wie positives Denken und Dankbarkeit das Leben verändert, Styria-Verlag, Wien-Graz-Klagenfurt, 2011, 17-21.