Der Ariadnefaden der Musik
Der Ausweg aus dem Labyrinth
von em. Univ.Prof. DDr. Eugen Biser

Wir leben in einer extrem unkreativen und unmusikalischen Zeit, in der die Reproduktion das schöpferische Element überwuchert. In der öffentlichen Einschätzung haben die Namen der Interpreten wie Furtwängler und Karajan die der Komponisten wie Hindemith und Schönberg überstrahlt. Der Olymp der großen Leitgestalten hat sich ohnehin in allen Bereichen entleert. Vergebens sucht man Politiker vom Range Churchills und Adenauers, Literaten vom Range Faulkners und Joyces, Maler vom Range Beckmanns und Picassos, Theologen vom Range Guardinis und Bultmanns. Der Geist – man kann es nicht übersehen – ist in die Technik abgewandert, die mit ihren Hervorbringungen nicht nur, wie Heisenberg beobachtete, das Antlitz der Erde verwandelt, sondern das Grundproblem der Metaphysik, die Verhältnisbestimmung von Möglichkeit und Wirklichkeit, an sich gerissen hat, indem sie uralte Menschheitsträume Zug um Zug realisierte: den Mythos des Prometheus in den Kernreaktoren, den Raum von der Sternenreise in der Raumfahrt, das Münchhausen-Märchen von den eingefrorenen Tönen in der sich ständig verfeinernden Speichertechnik und den Alptraum von einem Homunkulus in der nahezu schon erreichten Klonierung des Menschen.
Verlust von Spontaneität und Kreativität. Freud hatte in seinem Essay „Das Unbehagen in der Kultur“ richtig gesehen: Der Mensch steht im Begriff, die durch den von Nietzsche proklamierten Tod Gottes freigesetzten Attribute – in der Nachrichtentechnik seine Allwissenheit, in der Raumfahrt seine Allgegenwart, in der Evolutionstechnik sein Schöpfertum – an sich zu reißen und sich, wie Freud ironisch bemerkte, zu einem „Prothesengott“ aufzublähen. In alledem erhebt ein struktureller Atheismus sein Haupt. Kein Wunder, dass auf diese Zeit das bestürzende Herrenwort zutrifft: Wenn der Menschensohn kommt, wird er dann auf Erden noch Glauben finden? (vgl. Lk 18,8). Keine Frage: Es ist die Zeit des schwindenden Glaubens und, wie Guardini hinzufügte, der erkaltenden Liebe. Während der Mensch im Begriff steht, zum Schöpfer seiner selbst zu werden, zeichnet sich gleichzeitig aber auch eine beispiellose Erniedrigung des Menschlichen ab. In das Räderwerk der Leistungs- und Konsumgesellschaft geraten, verliert er seine Spontaneität, einer zunehmenden Medienabhängigkeit verfallen seine Kreativität und im Zug dieser wachsenden Selbstentfremdung schließlich sogar seine Identität. Zu der von Marcuse beschworenen Eindimensionalität verflacht, wird er geradezu zur Metapher seiner selbst.
Utopie des Friedens. Der Tragödie des Individuums entspricht die der Gesellschaft. Nachdem durch den Zusammenschluss der europäischen Völker auf dem blutgetränkten Boden Europas eine Zitadelle des Friedens entstand, schien die größte aller Menschheitsutopien, die Idee des universalen Friedens, bereits in greifbare Reichweite geraten zu sein. Dann aber zerstörte der ungeheuerliche Tabubruch in Gestalt des Irakkrieges diesen größten Menschheitstraum mit unabsehbaren Folgen, ausgenommen die eine, dass die Gegenwart einen zunehmend labyrinthischen Charakter annahm und ein geradezu chimärisches Gesicht gewann. Zum Labyrinth gehört dem Mythos zufolge, den Franz Werfel in seinem „Stern der Ungeborenen“ suggestiv in Erinnerung rief, der rettende Faden der Ariadne. Wo findet der sich heute? Auf der Suche danach wird man bei Heinrich von Kleists Novelle „Cäcilia oder die Gewalt der Musik“ fündig.
Angestachelt von ihrem aufrührerischen Prädikanten haben sich drei Bilderstürmer verabredet, das Cäcilienkloster während eines Festgottesdienstes zu verwüsten. Zu allem Unglück liegt die für die Musik verantwortliche Ordensschwester, schwerkrank und bewusstlos, in ihrer Zelle. Als die Äbtissin jedoch trotz aller Bedenken den Befehl zum pünktlichen Beginn der Messe gibt, erscheint die krank Geglaubte freundlich lächelnd auf der Empore und beginnt, zusammen mit den Sängern und Musikanten, die sich glanzvoll gestaltende Aufführung. Beim Gloria werfen sich die Bilderstürmer, die sich bereits störend bemerkbar gemacht hatten, plötzlich zu Boden und geben durch deutliche Gesten
ihren völligen Sinneswandel kund. Das Kloster bleibt unbehelligt, und die fromme Legende will wissen, dass die heilige Cäcilia selbst in Gestalt der erkrankten Nonne die Musik geleitet und durch deren Gewalt den drohenden Bildersturm verhindert habe.
Wie Musik heilt. Auf der Suche nach dem aus dem Labyrinth der Gegenwart herausführenden Ariadnefaden verweist die Novelle somit auf die Musik. Da der labyrinhische Charakter der Zeit wesentlich auf den krankmachenden Zug der modernen Gesellschaft und auf die vielfältige Verletzung der Menschen zurückgeht, hilft die Musik in erster Linie, indem sie heilt. Da er nicht weniger mit der umfassenden Todesverdrängung und ihren Folgen zu tun hat, hilft sie des Weiteren, indem sie mit dem Tod versöhnt. Und da er nicht zuletzt in der beispiellosen Erniedrigung des Menschen begründet ist, hilft sie, indem sie ihn erhebt. Das sei an drei herausragenden Werken verdeutlicht. Das erste, Maurice Ravels Klavierkonzert für die linke Hand (D-Dur), erfüllt dabei geradezu den Tatbestand einer realisierten Utopie, sofern es nach ausdrücklichem Bekunden seines Schöpfers darauf ausgeht, im Hörer die Illusion eines zweihändigen Konzerts zu erwecken, so dass die Musik dem kriegsversehrten Widmungsträger durch seinen Interpreten den fehlenden Arm in Form einer tönenden Prothese einzufügen scheint.
Versöhnung mit dem Tod. Und dies mit dem Erfolg, dass er für die Dauer des Konzerts wie ein Unversehrter auf den staunenden Zuhörer wirkt. Dass die Musik die schwerste aller Verletzungen, die dem Menschen geschlagene Todeswunde, symbolisch zu heilen vermag, beweist das „dem Andenken eines Engels“ gewidmete – und zu seinem eigenen Requiem gewordene – Violinkonzert von Alban Berg, wenn nach der durch den Bachchoral „Es ist genug“ insinuierten Versöhnung mit dem Tod der Schatten der tanzenden Widmungsträgerin kurz vor dem Verklingen des Werks auf dem musikalischen Geflecht auftaucht. Wenn das angenommen werden darf, führt der tönende Ariadnefaden sogar aus der Mitte des Labyrinths mit dem todbringenden Minotaurus und damit aus dem Zentrum der ebenso unübersichtlichen wie gefährlichen Zeitsituation heraus.
Gegen Erniedrigung und Verflachung. Der Erniedrigung und Verflachung des Menschen zur Eindimensionalität widersetzt sich die Musik schließlich in Beethovens Neunter Sinfonie (Op. 125), sofern dieses Pendant zu Dantes Göttlicher Komödie aus dem Inferno des Kopfsatzes (Allegro ma non troppo, un poco maestoso) über das Purgatorio des zweiten (Molto vivace) zum Paradiso des dritten (Adagio molto e cantabile) emporführt, um sich im Chorfinale des Schlusssatzes von der einleitenden „Schreckensfanfare“ (Wagner) zum „Sternendom“ (Nietzsche) mit dem liebenden Vater „überm Sternenzelt“ emporzuschwingen.
Heraus aus dem Labyrinth der Gegenwart. Damit geht die Musik auf gravierende Notstände des Menschen in dieser dürftigen (Heidegger) und labyrinthischen Zeit ein. Mit Ravels Klavierkonzert auf seine von Guardini in seinem Essay „Der unvollständige Mensch und die Macht“ beschworenen Unvollständigkeit, mit Werken wie Bachs Goldberg-Variationen oder Beethovens „Danksagung eines Genesenen an die Gottheit“ (Op. 132) auf seine Verletzungen und „Kränkungen“ (Freud), mit Werken wie dem Bergschen Violinkonzert oder Bachs Passionen auf seine Todverfallenheit, nicht weniger aber auch auf seine mit der epochalen Todesverdrängung gegebene Unwahrheit und mit Werken wie der Neunten Sinfonie, Bruckners und Hindemiths Sinfonien oder Franz Schmidts Oratorium „Das Buch mit den sieben Siegeln“ auf seine Verflachung und Erniedrigung. Indem sie damit auf die menschliche Ursache der chimärischen Zeitsituation eingeht und ihr ihre heilende und erhebende Gewalt (Kleist) entgegensetzt, führt sie tatsächlich mit ihrem tönenden Faden aus dem Labyrinth der Gegenwart, sofern sie nur ansprechbare Hörer findet, heraus.
(Originalbeitrag für das Jahrbuch der Diözese Gurk 2007)