„Das Schöne ist der Glanz der Wahrheit“
Ein Gespräch mit Bischofsvikar Olaf Colerus-Geldern
Das „volere bene“, das Wohlwollen, ist vermutlich das, was uns zu einer Interpretation hinzieht, die der Wirklichkeit am meisten entspricht, sagt Bischofsvikar Dr. Olaf Colerus-Geldern in einem Gespräch über Sinn & Schönheit, das er im Oktober 2010 mit Mag. Maximilian Fritz geführt hat.


MF: Herr Bischofsvikar, eine dumme Frage, aber ich stelle sie trotzdem: Gibt es eigentlich so etwas wie eine Definition von Sinn?
Colerus-Geldern: Es gibt nicht wirklich eine; früher sagte man, dass die letzte Frage nach dem Sinn mit der Frage nach Gott zusammen hängen würde. Ich bin überzeugt, dass Sinn ein Ziel braucht – dort, wo man kein Ziel sieht, gibt es auch keinen Sinn. Das Herkunftswörterbuch des Duden meint bei Sinn, „dass Sinn auf Verstand und Wahrnehmung hin bezogen ist. In ursprünglicherer Bedeutung verweist Sinn aber auch auf Gehen oder Reisen“. Sehen Sie, da spielt das Ziel schon eine Rolle. Von daher gibt es schon einen Zusammenhang nach einem tiefen, letzten Ziel. Man kann also die Frage nach dem Sinn und einem Ziel, zumindest einem Zwischenziel auf der Wegstrecke des Lebens, nicht abstrahieren. Dramatisch wird die Frage nach einem Sinn des Lebens. Das ist nun eine Weltanschauungsfrage: meint man, dass es ein endgütliges Ziel gibt, das außerhalb eines Selbst liebt, also ein transzendentes Ziel, oder ist es ein immanentes, dass man meint, man hat ein gutes Leben gehabt, einen erfüllten Beruf, man hat eine Familie gegründet, etc.
MF: Heißt das, dass der Mensch sich selbst Sinn geben, sich selbst Sinn machen kann – in dem er sich zum Beispiel einer Ideologie unterordnet?
Colerus-Geldern: Ich glaube, dass der Mensch im Letzten den Sinn nicht selbst aus sich herausbringen kann. Ich glaube, dass alles Entscheidende, was wir im Leben empfangen, Geschenk ist, Gnade ist. Wir wissen, wie schwer es dem Menschen fällt, Vertrauen zu entwickeln, wenn ihm selbst nicht vorher Vertrauen entgegen gebracht worden ist. In der Psychologie würde es heißen, dass der Mensch nur Liebe entwickeln kann, wenn er vorher selbst Liebe erfahren hat. In einem fundamentalsten Sinne ist das die Stärkung durch die Macht, die überhaupt Sein ins Dasein gerufen hat, aber vermittelt durch so genannte „Gratia secunda“, zweite Gnaden oder vermittelte Gnaden durch Menschen. Das ist kein philosophisch stringenter Beweis, aber aus der Erfahrung heraus ist feststellbar, dass dort, wo jemand in einer Familie, bei Eltern, keine „Bergung“ erfahren hat, dass dort auch die Vertrauensbildung eine sehr problematische Sache ist. Wenn man fragt, wo die Stiftung von Sinn angefangen hat, glaube ich antworten zu können, dass sie im Letzten in einem Vertrauen fußt, dass das Dasein Schöpfung ist.
MF: Ist eine Sinn stiftende Schöpfung auch „schön“ – oder anders gefragt, gibt es einen Begriff von Schönheit, die ja so wandelbar und subjektiv scheint?
Colerus-Geldern: Begriffe sind immer wieder interpretierbar, d.h. dass wir bei jeder Begriffserklärung in Streit kommen – nicht im bösen Sinn, aber im Sinn des Diskutierens. Für den Philosophen Immanuel Kant ist ein Merkmal des Erlebnisses des Schönen gewesen, dass man dem Schönen gegenüber ein interesseloses Wohlgefallen empfindet. Dem Schönen gegenüber empfindet man zwar eine Sehnsucht – und zwar nach Eins-Werden mit dem Schönen – aber nie im Sinne einer Begierde der Gewalt oder gewalttätigen Begierde. Das tiefe Verlangen des Eins-Werden ist letztlich ein Verlangen des Eins-Werdens mit der Weltwirklichkeit. Das Erkenntnisobjekt des menschlichen Geistes ist das gesamte Sein, meint die Scholastik. Dort, wo man nicht mehr Schönheit empfindet, gibt es also auch keine Ehrfurcht mehr, keinen Respekt. Es ist daher ein wesentlicher Aspekt des Menschlich-Seins die Fähigkeit zu haben, Schönheit als solche zu erkennen und sich den Blick für das Schöne zu bewahren. „Pulchrum est splendor veri“ – Schönheit ist der Glanz des Wahren, sagt man. Schönheit kommt vom Scheinen – nicht im Sinn von Vorspiegelung, sondern von Leuchten, Scheinen, vom Glänzen. Der Glanz der Wahrheit, der Wirklichkeit ist das Schöne.
Ich glaube, es gehört zum Beglückendsten menschlicher Begegnung, Gemeinsames schön zu finden. Um Immanuel Kant weiterzuführen, kann man konstatieren: „Jede Wirklichkeit ist interpretierte Wirklichkeit – und nur unter den Interpretationen haben wir die Wahl; und wir sollten mit Liebe wählen“. Das „volere bene“, das Wohlwollen, ist vermutlich das, was uns zu einer Interpretation hinzieht, die der Wirklichkeit am meisten entspricht. Daher kann man sagen: wer in seiner Existenz nicht zu einem Wohlwollen kommt, wird auch nicht der Wirklichkeit begegnen. Wir schaffen als Menschen von uns aus immer nur Zeichen des Abglanzes der vollen Wahrheit, da bleibt uns die Sehnsucht, das Verlangen, die Hoffnung, aber die gehören zusammen – der Sinn, die Wahrheit und das Schöne. Das volere bene sieht auch im Leid das Schöne, womit allerdings keine Ästhetisierung des Unglücks und des Leids gemeint ist. Was damit gemeint ist, zeigt Johann Wolfgang von Goethe. Goethe hat in seinem west-östlichen Diwan eine berühmte Erzählung aus dem Persischen aufgenommen, in der erzählt wird, wie Jesus mit seinen Jüngern in eine Stadt kommt und sie dort auf eine Menschenmenge treffen, die den Kadaver eines verwesenden Hundes verwünschen. Die Jünger schließen sich dem orientalischen Brauch an und stimmen in die Verwünschungen mit ein. Christus schaut aber auf den Kadaver des verwesenden Hundes und sagt, „aber seine Zähne sind wie Perlen so schön und weiß“. Er blickt also wohlwollend und sieht auch im Schlechten, im Leid den Glanz der Wahrheit, das Schöne. Ich glaube, dass die Passionserzählung – ich denke an die Vergebungsbitte – aus dem Blick des Wohlwollens kommt und dass der Gekreuzigte auch die Schönheit der Sünder und des Menschen überhaupt wahr genommen hat. Christus hat den Blick gehabt auf dieses Letzte, Geschöpfliche der Gotteskindschaft des Menschen.