Von der „Ritual-Speise“ zum Massenprodukt

Zur Kulturgeschichte des Brotes

Brot ist etwas sehr Einfaches

Um es herzustellen, braucht man nur Körner oder Mehl, Wasser, Hefe, eventuell Salz – und Energie zum Backen. Brot ist für uns Alltag, und das schon lange. Aber das war nicht immer so. Die ältesten Brotreste überhaupt, die vor fünf Jahren im heutigen Jordanien gefunden wurden, sind über 14.000 Jahre alt. Als dieses Brot gebacken wurde, waren alle Menschen Wildbeuterinnen und Wildbeuter, es gab noch keinen Anbau und kein kultiviertes Getreide. Das heißt: Es war unglaublich mühsam, eine ausreichende Menge an Körnern zusammenzusammeln, auch deshalb, weil die Körnchen, die viel kleiner waren als das heutige Getreide, zu Boden fielen, sobald sie reif waren, wie bei Gräsern üblich.

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Vor der industriellen Revolution erforderte das Ernten des Getreides großen menschlichen Einsatz.
(„Der Sommer“, Pieter Brueghel d. J., Öl auf Holz, um 1600, Museum Brot und Kunst, Ulm)
Foto: Museum Brot und Kunst


Getreideanbau und Sesshaftwerdung

Und dann mussten die Körnchen zwischen zwei Steinen zermahlen werden. Eine kräftezehrende
Arbeit. Deshalb war Brot anfangs das Gegenteil einer Alltagsspeise. Es blieb Festen und Ritualen vorbehalten. Doch das Brot, so mutmaßen manche Forscherinnen und Forscher, war – ebenso wie
das Bier – so schmackhaft, dass es einer der Gründe dafür war, dass Menschen sesshaft wurden und Getreidefelder anlegten. Bis heute sind die Ursachen für die sogenannte Neolithische Revolution nicht genau bekannt.


Klimawandel und verringertes Nahrungsangebot

Am verbreitetsten ist die These eines Klimawandels, der das Nahrungsangebot drastisch verringert hatte. Was wir sicher wissen, ist, dass die Neolithische Revolution vor etwa 10.000 Jahren im fruchtbaren Halbmond begann und sich über tausende von Jahren hinzog. Etwa um 5.500 v. Chr. wurden die Menschen in Mitteleuropa sesshafte Bäuerinnen und Bauern. Diese Lebensform hatte weitreichende Konsequenzen. Dörfer und Städte entstanden, Eigentum und soziale Unterschiede. Und Abhängigkeiten, denn die Bauernschaft war darauf angewiesen, dass ausgebildete Waffenträger sie verteidigten. Abhängig war sie auch vom Wetter. Schlechte Ernten bedeuteten Hunger.
Jahreszeiten strukturierten das Arbeitsleben.


Zivilisierung des Menschen

Religionen integrierten Getreide und Brot als zentrale Inhalte. So erzählt zum Beispiel das babylonische Gilgamesch-Epos von der Zivilisierung des Naturmenschen Enkidu durch das Essen von Brot und Trinken von Bier. Und in der ägyptischen Hochkultur, einer ausgeprägten Getreidekultur, begegnet uns das Bild des Korns, das absterben muss, um neues Leben hervorzubringen. Im Museum Brot und Kunst ist einer der seltenen Osiris-Sokar-Sarkophage für den Totenkult zu sehen. In
einem winzigen Sarkophag befinden sich Getreidekörner, die bei geöffnetem Deckel keimen und die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod verkörpern.

Brotkultur und Fleischkultur

Seit die römische Kultur durch das Christentum geprägt wurde, spielten Wein, Öl und Brot eine herausragende, nämlich symbolischideologische Rolle in der Ernährung. Wein- und Weizenanbau wurden von den frühchristlichen Klöstern verbreitet und findensich nicht zufällig in zahlreichen Abbildungen wieder. Diese Speisen galten, weil sie das Ergebnis kenntnisreicher Verarbeitung waren, als kultiviert und zivilisiert. Ganz im Gegensatz zu dem, was die einfallenden Germanen konsumierten: Fleisch, Met und rohes Gemüse – und von allem viel. Das sei barbarisch, urteilten die Römerinnen und Römer. Brot- und Fleischkultur prallten aufeinander. Und doch entfaltete das maßlose Fleischessen eine Faszination, verband es sich doch mit den Eigenschaften von Stärke und Männlichkeit bzw. „tierischer“ Überlegenheit. Die Kluft zwischen „römischer“ und „barbarischer“ Welt bleibt in gewisser Weise bis heute bestehen, und doch kam es im 5./6. Jahrhundert zu einer Art Symbiose, die nun beides, Brot und Fleisch, als Grundlagen der Ernährung betrachtete. Aber Brot wurde zum Synonym für Nahrung überhaupt.


Brotbereitung im Wandel

Damit am Ende Brot auf dem Tisch liegt, waren und sind seit der Sesshaftwerdung die immer gleichen Arbeitsschritte zu tun, vom Bodenvorbereiten über Säen, Düngen, Ernten, Mahlen und Backen bis zum Verteilen. Nur sind die einzelnen Handlungen im Lauf der Zeit durch soziale und vor allem technische Innovationen verändert worden. Diese Neuerungen sind Teil unserer Kultur, auch die
zugrunde liegende Überzeugung, dass Wissen und Technik Fortschritt bedeuten. Eine lange Geschichte haben vor allem die Erfindungen zur Mühlentechnik. Zwar wurden jahrtausendelang und noch im alten Ägypten die meisten Körner per Hand zwischen zwei Steinen zerquetscht – zum Leidwesen der Zähne, die durch Steinsplitter in Mitleidenschaft gezogen wurden. Doch wurden mancherorts aus Steinen Mörser und dorthinein wurden runde Steine gesetzt, die man drehen konnte: erste Mühlen. Die konnte man auch größer konstruieren und Menschen, Pferde oder Kühe davorspannen.


Innovationssprung

Einen Innovationssprung stellt dann die Nutzung natürlicher Energien dar: Wassermühlen wurden mit den Römern zur gängigen Technik. Windmühlen finden erst ab dem 12. Jahrhundert einige Verbreitung. Diese Mühlen waren ungleich leistungsfähiger als menschliche und tierische Kräfte und blieben bis zur Industrialisierung die stärksten Maschinen überhaupt. Im 19. Jahrhundert wurde die Dampfmaschine als Antrieb der Mühle erfunden und der Walzenstuhl, der in mehreren Durchgängen das Mahlgut aufbricht und zerkleinert. Heutige Mühlen sind hoch technisiert und mit Farbsichtern ausgestattet, die Verunreinigungen wie Mutterkorn, Steinchen und fremde Pflanzenteile automatisch aussortieren. Wasser- und Windmühlen sind nur noch romantische Denkmäler vergangener Zeiten.


Nicht nur eine Erfolgsgeschichte

Ähnlich hat die Dampfmaschine auch die Landwirtschaft beflügelt und Knetmaschinen in die Backstuben gebracht. Ohne diese Arbeitserleichterungen durch Maschinen, ohne die sogenannte industrielle Revolution, würden wir heute noch in Agrargesellschaften leben. Maschinen haben aber auch dazu geführt – und dieser Prozess dauert bis heute an – dass immer weniger Menschen in der Landwirtschaft sowie in den Mühlen und in den Bäckereien benötigt wurden und werden. In der Landwirtschaft haben aber nicht nur große Maschinen Einzug gehalten. Weitere entscheidende Errungenschaften, die ebenfalls ins 19. Jahrhundert zu datieren sind, sind wissenschaftliche Erkenntnisse über Pflanzenwachstum, aus denen schließlich moderne Züchtungen, Dünge- und Pflanzenschutzmittel und im 20. Jahrhundert Gentechnik und die Genschere CRISPR/Cas resultieren. Seit einigen Jahrzehnten wissen wir, dass das nicht nur eine Erfolgsgeschichte ist. Durch die intensive und monokulturelle Landwirtschaft verringert sich die Fruchtbarkeit der Böden, gehen Arten in schwindelerregender Zahl und Schnelligkeit verloren und werden, vor allem durch die Herstellung des Düngers, Unmengen an CO2 ausgestoßen.


Globalisiertes Brot

Während das unverpackte Brot regional produziert wird, können die Inhaltsstoffe von überallher kommen. Aus der ganzen Welt fließt Getreide in unsere Brote, u. a. aus Tschechien, Polen oder Kanada. Die Preise entstehen am Weltmarkt, weshalb es für hiesige Landwirtinnen und Landwirte schwierig sein kann, alle nationalen Auflagen zu erfüllen und dabei noch gewinnbringend zu produzieren. Und doch: Brot ist nicht gleich Brot. Zwar wird es heute fast auf der ganzen Welt gegessen – in asiatischen Ländern wächst seit einigen Jahren der Konsum enorm –, doch hängen an den unterschiedlichen Formen, Getreiden und Triebmitteln kulturelle und nationale Identitäten: Fladenbrot, Baguette, Toastbrot und Roggenmischbrot stehen für jeweils eigene Traditionen und Erinnerungen.
Einige Tendenzen sind jedoch global.


Vormarsch des Weizenbrotes

So entstehen heute die meisten Brote als Massenware. Da Getreide ein Naturprodukt ist und nicht immer die gleichen Eigenschaften aufweist, werden dem Teig oft Zusatzstoffe beigegeben, damit die Backqualität gleich bleibt und Brote am Ende jeden Tag gleich aussehen und schmecken. Üblich sind Malz, Enzyme und Emulgatoren. Schon seit Jahrzehnten ist mdas Weizenbrot auf dem Vormarsch, global gesehen sowieso, aber auch in Deutschland und Österreich. Das liegt an einer Mischung aus wissenschaftlichen und kulturellen Kontexten. Zum einen wächst in der modernen
Landwirtschaft der anspruchsvolle Weizen auch auf weniger guten Böden. Vor allem aber war Weißbrot in Mitteleuropa jahrhundertelang als Nahrung der Reichen begehrt und hat sich deshalb durchgesetzt. Es ist durch seinen dezenten Eigengeschmack ein geeigneter Speisebegleiter. Gebäcke nähren aber nicht nur den Leib und sind in ein kulturelles Umfeld eingebunden. Sie können selbst Bilder und Symbole tragen. So wurden Brote früher, wenn mehrere Familien in einem Backhaus backten, mit Eigentümerstempeln gekennzeichnet, oft in Form von christlichen Zeichen. Ebenso werden Hostien bis heute Kreuze oder das Christusmonogramm aufgeprägt. Einem ähnlichen Denken entspringen alle sogenannten Gebildbrote, also Gebäcke, die durch Ausstechen oder Ausformen Figuren, Tiere oder auch ganze Szenen zeigen.

Botschaften und Bekenntnisse im Brot

Die Darstellungen erfreuen nicht nur das Auge und den Geist, sondern sie werden beim Essen wortwörtlich verinnerlicht. Diese Tradition ist mindestens 2000 Jahre alt und stammt aus einer Kultur, in der Bilder und bildmächtige Rituale verständlicher waren als Texte. Andere Gebäcke werden oder wurden nur zu bestimmten Anlässen hergestellt, so etwa die Brezel, die ursprünglich ein Fastengebäck war, da die „Brezel-Ärmchen“ an eine Gebetshaltung erinnern, der Christstollen,
der die Form eines in Tücher gewickelten Neugeborenen hat, das Osterlamm oder die vielfältigen Weihnachtsbäckereien. Ihre Botschaft lautet: Jeder Biss erinnert an Gott und daran, dass Esserinnen und Esser Teil eines sinnvollen großen Ganzen sind.

Junkfood oder Delikatesse?

Heute finden wir im Supermarkt die vielfältigsten, auch exotischen Nahrungsmittel. Brot ist nur noch ein Lebensmittel unter vielen anderen. Und dabei schmecke es längst nicht mehr so gut wie „früher“, finden viele. Ratgeber informieren über „gesunde“ Ernährung. In den Diskursen fallen Sätze wie „Brot macht dick“ oder „Weißbrot ist ungesund“. Glutenunverträglichkeiten nehmen zu, obwohl Studien zufolge der Glutengehalt moderner Getreidesorten nicht über dem alter Landsorten liegt. Die Angst vor krankmachender Chemie im Brot, die man undeklariert zu sich nimmt, ist weit verbreitet. Manche Bäckerinnen und Bäcker werben mit Biosiegeln oder regionalen Zutaten. Die Diskussion über Ernährungsweisen, Konsumverhalten und Nachhaltigkeit ist im Brot angekommen. Und so ist die Bandbreite der angebotenen Brote groß. Da gibt es das abgepackte Supermarktbrot, das, wie auf der Packung zu lesen ist, mit chemischen Konservierungsmitteln ausgestattet ist und lange hält. Daneben das industriell hergestellte Backshop- Brot, das vor allem billig sein will, satt macht
und gar nicht so schlecht schmeckt.

Konkurrenz und Personalmangel

Dazu gehört auch das Brot der Fastfood-Kette Subway, das 2020 wegen seines hohen Zuckergehalts vor einem irischen Gericht als „Süßigkeit“ statt als Brot eingestuft wurde. Schließlich das Angebot der Bäckerinnen und Bäcker, das meistens in großen, mit zahlreichen Maschinen bestückten Hallen hergestellt und dann in Form von Teiglingen auf viele Filialen verteilt wird. Vor Ort wird es fertig gebacken und „frisch aus dem Ofen“ verkauft. Jährlich sinkt die Zahl der Betriebe und steigt die Anzahl der Filialen pro Betrieb.


Nur so ist mit der Konkurrenz mitzuhalten

Und wenn auch in Deutschland noch fast jeder Haushalt regelmäßig Brot kauft, so ist der Konsum in den letzten 10 Jahren doch um 25 Prozent gesunken. Das klassische Abendbrot als Brotmahlzeit wird in den meisten Familien durch ein warmes Abendessen ersetzt, und auch das Frühstück fällt häufig aus Zeitmangel weg. Bäckereien haben sich darauf eingestellt und bieten zunehmend belegte Brötchen und Snacks als kleine Mahlzeit zwischendurch an. Schließlich leidet die Branche an Personalmangel, vor allem an Nachwuchs. Welcher junge Mensch will schon Tag für Tag um 4 Uhr nachts mit der Arbeit beginnen? Seit einigen Jahren ist allerdings ein interessanter Nischentrend zu beobachten. Hier und da öffnen kleine und mittelgroße Bäckereien, die sich der Herstellung von Brot als Delikatesse verschrieben haben, oft verbunden mit einer Schaubäckerei, die Transparenz
signalisiert. Dort erproben meist junge Bäckerinnen und Bäcker neue Konzepte und Rezepte. Der selbst gepflegte Sauerteig spielt dabei ebenso eine Rolle wie ein überschaubares Angebot, Bio-Zutaten und viel Zeit für die Teiggärung. Geworben wird mit „echter Handarbeit“. Am Ende entscheiden Kundschaft und Preis.

Autorin: Dr. Isabel Greschat, Direktorin des „Museums Brot und Kunst. Forum Welternährung“ in Ulm., Erstveröffentlichung in: »Unser tägliches Brot«, Jahrbuch der Diözese Gurk 2023, (Redaktion: Pressestelle der Diözese Gurk).