„Den Menschen ein kräftigeres Brot reichen“

Vom Bäcker zum Priester: Generalvikar Johann Sedlmaier über seine Berufung, die Sorge um das tägliche Brot und die Bedeutung der Eucharistie

Brot gab es bei uns zu Hause immer. Wenn wir als Kinder außerhalb der Essenszeiten hungrig wurden, gab es Brot mit Butter und Honig. Wer dies verschmähte, der hatte eben keinen Hunger! Wenn unsere Oma vom Krieg erzählte, den ukrainischen Zwangsarbeitern, den Partisanen, die sich im Wald verstecken mussten und furchtbaren Hunger litten, oder den Leuten aus der Stadt, die der
Hunger aufs Land zu den Bauern zum Betteln trieb, dann hörten wir mit großen Augen zu und dachten, wie gut es uns doch geht. Folgende Geschichte hat sich bei mir bis heute tief eingeprägt: Gegen Ende des Krieges, es muss das Jahr 1944 gewesen sein, mussten auch so manche Bauern aufgrund der vielen gesetzlich vorgeschriebenen Lebensmittelabgaben selbst Hunger leiden. Viele waren bereits unterernährt. Auch meine Oma war davon betroffen. Es gab kein Getreide und auch kein Mehl mehr im Haus. Als Kleinbäuerin machte sie sich zu Fuß auf den Weg nach Völkermarkt, um sich, wie viele andere auch, dort um Brot anzustellen.


Hunger und Scham

Es war Frühling. Die schwere Arbeit auf dem Feld hatte begonnen. Sie war bereits vom Hunger verzehrt, und trotzdem musste sie wieder hungrig und ermattet zu Fuß und ohne Brot zehn Kilometer weit nach Hause zur schweren Arbeit zurückkehren. Ein andermal bat sie ihre Nachbarin, Brot mitzubringen, aber auch sie hatte keinen Erfolg. Ich weiß nicht, was ihr mehr wehtat: der Hunger oder die Scham, als Bäuerin kein Mehl und kein Brot mehr zu haben. Sie erzählte mir, wie sie am Wiesenhang ober dem Hof saß und aus lauter Verzweiflung bitterlich weinte.

Kein Getreide, kein Brot

Wer kann es schon genau sagen: Vielleicht war diese Begebenheit meiner Oma mithin ein Grund, dass ich zuerst Bäcker und später Priester wurde. Viele Tausende Kilo Brot gingen in diesen Jahren durch meine Hände. Das Brotbacken wurde zu meinem Beruf. Trotzdem blieb jeder Backvorgang doch ein ziemliches Geheimnis, denn nicht jedes Brot gelingt auf gleich gute Weise. Der Einfluss von Mehlqualität, Mehlmischung, Temperatur der Schüttflüssigkeit, sorgfältige Sauerteigführung und die Zugabe des rechten Anteils von Salz und Gewürzen und nicht zuletzt die passende Backtemperatur erfordern ungemein viel Gespür und Erfahrungswissen. Aber was tun, wenn es kein Mehl gibt? Eines ist mir als Bauernbub schon immer klar gewesen: Wenn es kein Getreide gibt, gibt es auch kein Brot. Wir Menschen sind Teil der Schöpfung und letztlich viel abhängiger vom Kreislauf der Natur, als es uns bisweilen bewusst ist.

Sorge um das tägliche Brot

Die Bilder vom Ukrainekrieg mit all dem unermesslichen Elend und Leid der Menschen erinnern mich wieder an die Geschichten meiner Oma. Ganz plötzlich ist sie wieder da, die Sorge um das tägliche Brot, die in unserer Wohlstandsgesellschaft bereits verschwunden schien. Wie absurd und irrsinnig erscheint angesichts all der Not die Tatsache, dass in den letzten Jahrzehnten in Wien jeden Tag so viel Brot weggeworfen wird, wie eine Stadt in der Größe von Graz an einem Tag verbraucht. Diese Ungeheuerlichkeit ruft mir ein Erlebnis als Priester und an die unvergessliche Begegnung mit einer Frau in Erinnerung, die ich als junger Pfarrer für kurze Zeit bis zu ihrem Tod begleiten durfte. Als ich Franziska das erste Mal zu Hause besuchte, erzählte sie mir nicht nur von ihrer fortschreitenden Krebserkrankung und ihrembevorstehenden Tod, sondern sehr lange und
ausführlich von ihrem Schicksal, eine Überlebende des Konzentrationslagers Bergen-Belsen zu sein.

Brot im Konzentrationslager

Auch nach all den vielen Jahren waren das Leid und der Schmerz noch immer in ihren Augen zu sehen. Am 7. September 1944 wurde zunächst ihr Vater und am Abend desselben Tages schließlich auch sie von der Gestapo verhaftet und später in das KZ Ravensbrück und von dort in das KZ Bergen-Belsen deportiert. Wenigstens ihre damals einjährige Tochter durfte bei der Großmutter zu Hause bleiben. Im Gespräch versicherte mir Franziska immer wieder, dass sie es bis heute nicht verstehen kann, warum sie damals als Verbrecherin aus ihrem Dorf abgeführt wurde. „Was habe ich getan? Warum wurde ich so hart bestraft?“ Ihr Verbrechen bestand darin, dass sie einem Kriegsgefangenen unerlaubterweise heimlich ein Stück Brot zugesteckt hatte.


Bedrohte Ideale und Werte

Es gibt auch heute Ideale und Werte der Menschlichkeit, die ständig bedroht sind und die es wert sind, dass wir uns für sie mit unserem Leben einsetzen. Daran erinnert mich ja auch Jesu Geschick von seinem Leben, seinem Sterben und seiner Auferstehung. Selbst zum Opfer geworden, identifizierte sich Jesus mit den Opfern – auch mit den Opfern in seinen Gegnern. Nicht nur eine machtlose junge Frau, die einem Kriegsgefangenen ein Stückchen Brot schenkt, wurde ins KZ gesteckt, sondern auch Priester, die sich der Dialektik der christlichen Nächstenliebe verpflichteten, also „politisch unzuverlässig“ waren, wurden verschleppt und auf drastische Weise brutal gepeinigt und gequält. In der Lagerliste von Dachau mit Stichtag vom 15. März 1945 werden exakt 1439 katholische Priester aufgeführt (vgl. Haase, Jürgen / Zeches, Léon (Hg.): Der neunte Tag. Pfarrerblock 25487. Das Buch zum Film des Oscar-Preisträgers Volker Schlöndorff; Editions Saint Paul, Luxemburg, 2004, S. 33)1.

Bildunterschrift (Bildrechte sind zwingend anzugeben!)
"Wenn ich die Hostie hochhalte, dann sehe ich darin de Auferstandenen, der mir die Kraft zum Leben schenkt. (Generalvikar Sedlmaier in der Pfarrkirche St. Martin am Techelsberg). Foto: Michael Habernigg


Heilende Kraft der Eucharistie

Im berüchtigten Pfarrerblock wurden während des Naziterrors ca. 3000 Priester aus ganz Europa inhaftiert. Das NS-Regime wollte damit die Herzmitte der Kirche treffen und den theologischen Widerstand der Geistlichen brechen. Ein exemplarisches Zeugnis dafür ist das Tagebuch „Pfarrerblock 25487“, das über den KZ-Aufenthalt des Priesters Jean Bernard in Dachau berichtet. In seinen Aufzeichnungen wird immer wieder auch auf die Messfeier im Lager und auf die heilende, verwandelnde Kraft der Eucharistie Bezug genommen. „,Hoc est enim corpus meum‘. Ich schaue auf die beiden Stückchen Brot in meiner Hand, und die Tränen rollen mir nur so die Wangen hinunter, während derjenige, für den wir hier alles leiden, in unsere Mitte kommt, während Hunderte von Priesterherzen ihr Opfer mitdem des Heilands vereinen zu einem einzigen, das ganz gewiss neue Fäden zwischen Himmel und Erde spinnt. Bei der heiligen Kommunion legen die Priester die kleinen Partikel zusammen; es kommunizieren dann die Nichtpriester, die ihnen ein Teilchen anvertrauten. Es ist ein Meer von Trost, das sich über die Versammelten ergießt. Trost und Hoffnung und Kraft zu neuem, freudig hineingenommenem Leiden“ (ebd., S. 57f.).

Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit

Inmitten des Grauens wird das Sakrament der Eucharistie hier zur Quelle der Kraft und der Versöhnung. Indem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Messfeier in das konkrete Opfer Jesu Christi eintauchen, sich mit seinem Geschick verbinden und dieses gegenwärtig setzen, werden sie selbst befähigt, die Wirklichkeit des Lagers anders zu sehen als ihre Verfolger. Auf sakramentale Art und Weise wird die Liebe Gottes lebendig und in der faktisch stattfindenden religiösen Bewältigung des Grauens auch konkret sichtbar. Indem die Häftlinge die brutalen Schikanen bewusst ertragen und erleiden, geben sie Zeugnis für die stattfindende Transformation des Bösen. Die heilige Kommunion verwandelt den Geist dieser Menschen. Je länger ich Priester bin, desto tiefer zeigt sich mir der Zusammenhang, dass der Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden im Glauben an einen Gott gründet, der die konkreten Nöte der Menschen im Blick hat. Ein Gott, wie er sich in der Geschichte des Volkes Gottes immer wieder geoffenbart hat. Als die Israeliten auf der Flucht aus Ägypten ins gelobte Land kommen, bemerken sie, dass ihre letzten Vorräte aufgebraucht sind.

Himmlisches Brot

In größter Verzweiflung, den Hungertod vor Augen, beginnen sie, Mose zu drohen und auf ihren Anführer zu schimpfen. Ihre Existenz ist in Gefahr, und auch Mose bangt um sein Leben. In dieser aussichtslosen Lage geschieht ein rettendes Wunder: Gott lässt Brot vom Himmel regnen. Mit dem Manna, wie das himmlische Brot heißt, möchte Gott seinem Volk zeigen, wie sehr er es liebt und für es sorgt. Die Menschen sollen genug zu essen haben, und niemand soll verhungern, sondern so viel haben, wie man zum Leben braucht. Auf neue Weise wird auch Jesus für die Menschen zum Retter. In einer Welt voller Unrecht und Gewalt wird er durch den Geist dazu geführt, die erlittene Gewalt nicht mit Gegengewalt zu beantworten.

Brot des Lebens

Als er nach seiner Auferstehung den verängstigten Jüngern erscheint, macht er ihnen keine Vorwürfe für ihr Fehlverhalten, sondern er wünscht ihnen als Erstes Frieden und schenkt ihnen bedingungslos die Vergebung für ihre Vergehen und ihre Feigheit, ihn verleugnet zu haben. Bei meiner Beauftragungsfeier zum Akolythat sprach unser damaliger Diözesanbischof Dr. Egon Kapellari davon, dass ich als Bäcker und später als Priester den Menschen ein noch wertvolleres, kräftigeres Brot reichen werde. Ein Brot, das der Herr selbst den Menschen zu essen gibt und das mir von Gott in die Hände gelegt werde, damit ich es großzügig an die Menschen weiterreiche. Die Eucharistie, das heilige Brot, ist mehr als nur ein einfaches Symbol. Es ist das Brot des Lebens. Denn es ist erfüllt mit dem Leben Jesu und mit dem Lebens- und Glaubensschicksal vieler Christinnen und Christen. Es erinnert uns zugleich auch an alle, die ihr Leben für die Rechte des Menschen, ja mehr
noch, für die Liebe zu den Menschen eingesetzt haben.

Geschenk vom Himmel

Hinter der konsekrierten Hostie sehe ich daher auch das Leben unzähliger Menschen selbst. So schwach und hilflos wie das kleine Brot, so schwach und hilflos und schützenswert ist auch das Leben des Menschen an sich. Das alles sehe ich in diesem Brot gegenwärtig. Wenn ich die Hostie, das heilige Brot, hochhalte, dann sehe ich darin den Auferstandenen, der mir die Kraft zum Leben, die Kraft, Ungerechtigkeiten aufzuheben, und die Kraft, mir selbst und den anderen zu vergeben, schenkt. Ich kann dieses Lebensbrot nicht in der Backstube backen. Jedes Mal, wenn wir miteinander heilige Messe feiern und dabei das Leben, Leiden, Sterben und Auferstehen Jesu Christi bedenken, bekommen wir es gnadenvoll vom Himmel geschenkt.

Autor: Generalvikar Dr. Johann Sedlmaier, Erstveröffentlichung in: »Unser tägliches Brot«, Jahrbuch der Diözese Gurk 2023, (Redaktion: Pressestelle der Diözese Gurk).