Wohlstand auch mit Tieren teilen

Grundzüge einer christlichen Tierethik

von Univ.-Prof. Dr. Michael Rosenberger

In den 14 Kreuzwegstationen ihrer „Via dolorosa“ von 2012 ersetzt die Künstlerin Deborah Sengl die Figur Jesu durch ein Huhn. Damit macht sie auf die Verbindung zwischen dem Leiden Jesu und dem Leiden von Tieren in der Intensivtierhaltung aufmerksam. Zweifelsohne ist das Kunstwerk Sengls eine Provokation. Ob es jemandem ästhetisch gefällt, ist eine Geschmacksfrage. Theologisch aber enthält es eine fundamentale Einsicht: Der Gottessohn solidarisiert sich mit dem Leiden aller Geschöpfe. Wie kann eine christliche Tierethik dieser Glaubensüberzeugung gerecht werden?

Die geschöpfliche Würde der Tiere

Bildunterschrift (Bildrechte sind zwingend anzugeben!)
Den Tieren ein artgerechtes Leben in der Natur Gottes gönnen. Foto: Hildegard Tschuitz

Für Papst Franziskus gehört es zu den grundlegenden Überzeugungen, dass jedes Geschöpf eine unveräußerliche Würde hat. Denn: Jedes Lebewesen hat

  • einen Eigenwert und preist und verherrlicht Gott durch sein Dasein (vgl. Laudato Si’, Nr. 69).
  • einen unmittelbaren Gottesbezug: „Jedes Geschöpf ist also Gegenstand der Zärtlichkeit des Vaters, der ihm einen Platz in der Welt zuweist. Sogar das vergängliche Leben des unbedeutendsten Wesens ist Objekt seiner Liebe, und in diesen wenigen Sekunden seiner Existenz umgibt er es mit seinem Wohlwollen“ (ebd. Nr. 77).
  • einen unmittelbaren Bezug zu Christus, denn Christus ist „Fleisch“ geworden, und das heißt wörtlich: Er ist Geschöpf geworden.
  • eine Hoffnung auf Erlösung, denn wenn Christus das Geschöpf sein angenommen hat, ist jedes Geschöpf erlöst – ganz nach dem klassischen Glaubenssatz „alles, was (von Gott) angenommen ist, ist auch erlöst“.

Würde und Eigenständigkeit

Was aber meint es, wenn von Würde gesprochen wird? Würde kommt dem betreffenden Lebewesen vorab zu jeder Wertung durch den Menschen zu, also unabhängig von Ästhetik und Nutzenkalkulation. Wer Würde besitzt,hat Eigenständigkeit und geht nicht darin auf, für jemand anders da zu sein. Er verdient moralische Beachtung und ist letztlich unverfügbar. Diese letzte Unverfügbarkeit impliziert nicht das generelle Verbot der Nutzung. Sie schließt aber die Reduktion auf den Nutzen aus. Die Anerkennung einer Würde gründet nicht auf aktuellen „Interessen“ oder Fähigkeiten, sondern auf der Unersetzlichkeit und Einzigartigkeit des Individuums. Die Anerkennung einer Würde der Tiere bedeutet keine Einebnung der Unterschiede zwischen Mensch und Tier. Es geht einzig darum, dass man dem Tier ebenso wie dem Menschen moralische Beachtung schenkt.

Gerechtigkeit als Fairness für Tiere

Individuen, denen wir Würde zusprechen, sind Adressaten der Gerechtigkeit: Sie müssen gerecht behandelt werden. Papst Franziskus spricht in seiner Enzyklika „Laudato Si’“ davon, dass „sämtliche Geschöpfe des Universums, da sie von ein und demselben Vater erschaffen wurden, durch unsichtbare Bande verbunden sind und (…) alle miteinander eine Art universale Familie bilden (...)“. Diese Familie umschließt alle lebenden Arten und Individuen: „Wenn (…) das Herz wirklich offen ist für eine universale Gemeinschaft, dann ist nichts und niemand aus dieser Geschwisterlichkeit ausgeschlossen“ (ebd. Nr. 89 und 92). Zwischen Geschwistern muss aber Gerechtigkeit herrschen. „Jedem das Seine“ (Ulpian, Digesten I, 1,10). Mit diesem einprägsamen Schlagwort wird Gerechtigkeit seit der Antike umschrieben: Nicht jedem genau das Gleiche zuzuerkennen, sondern das, was der Einzelne braucht. Es gilt aber auch die Umkehrung: „Jeder das Seine“: Jeder soll zum Gemeinwesen beitragen, was er beitragen kann – der Starke mehr, der Schwache weniger. Gerechtigkeit bedeutet Geben und Nehmen. Stillschweigend ist ein dritter Aspekt mit gemeint: „Im Rahmen der (knappen) Möglichkeiten.“ Kein Lebewesen, und erst recht nicht der Staat, kann mehr geben als er hat. Die Gerechtigkeitsfrage stellt sich gerade dort, wo Knappheiten auftauchen. Solange etwas im Überfluss vorhanden ist, braucht über seine Verteilung nicht diskutiert werden.

Wohlstand teilen

Nun haben die Menschen einer wohlhabenden Industriegesellschaft viel mehr Wohlstand als frühere Generationen – und müssen daher dem Tier mehr geben. Ein Schwein wurde noch vor ein bis zwei Jahrhunderten in einen engen Verschlag gesperrt, wenn es sich nicht im Freien aufhielt. Aber auch der Halter des Tieres und der potenzielle Käufer des Schweinefleisches teilten ihr enges Bett mit Frau und Kindern. Menschen wie Tiere lebten sehr beengt. Heute aber haben die Menschen in den reichen Ländern der Erde großen Wohlstand erreicht. Gerechtigkeit heißt, diesen Wohlstand mit armen Menschen und Tieren zu teilen. Was aber ist das dem Tier Angemessene? Tiere werden nie dieselben Rechte haben wie Menschen. Sie werden aber auch nie dieselben Pflichten haben wie Menschen. Gemäß dem Grundprinzip der Ethik, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln, wird es immer Unterschiede zwischen der Behandlung eines Tieres und der eines Menschen geben. Wir werden dem Tier nicht gerecht, wenn wir es wie einen Menschen behandeln. Aber dort, wo das Tier gleiche Bedürfnisse hat, muss für deren gleiche Berücksichtigung gesorgt werden.

Situation der Nutztiere

Gerechtigkeitstheorien haben seit der griechischen Antike viel mit dem Vergleichen verschiedener Individuen zu tun. Im Blick auf die Tierethik könnte es daher hilfreich sein, die Situation der Nutztiere mit jener der am wenigsten begünstigten Menschen einer Gesellschaft zu vergleichen: Wie viel Wohnfläche wird einem Sozialhilfeempfänger zugestanden? Oder einem Asylbewerber? Und wie viel Stall- und Auslauffläche hat im Vergleich dazu ein Tier? Natürlich: Ein Mensch hat mehr geistige Bedürfnisse als die meisten Tiere. Dafür hat das Tier aber vielleicht mehr körperliche Bedürfnisse oder braucht auf Grund seiner körperlichen Anstrengungen besonders viel Ruhe und Erholung. Und gewiss: Der Flächenvergleich muss in Relation zur Körpergröße gesetzt werden, sonst wird er verzerrt. Nach aktuell geltender EU-Richtlinie sind in der Zucht von Masthähnchen 33 Kilogramm Huhn pro Quadratmeter Bodenfläche erlaubt. Das sind etwa 22 Tiere. Jedes Masthähnchen hat also kurz vor der Schlachtung 450 Quadratzentimeter Fläche zur Verfügung, weniger als ein DIN A4-Blatt. Seine Lebensdauer beträgt in der Massentierhaltung zwischen 32 und 38 Tagen. Damit es in dieser Geschwindigkeit heranwachsen kann, werden dem Futter sehr oft Antibiotika als „Leistungsverstärker“ zugesetzt, obwohl das in der Europäischen Union seit 2006 verboten ist. Ein anderes Beispiel: Wie groß ist der Mindestlohn für einen arbeitenden Menschen? Und wie groß ist der Tageslohn einer Milchkuh? Für die tägliche Milchleistung einer Kuh erhalten Bauern derzeit weniger als zehn Euro. Davon gehen Kosten für die menschliche Arbeit und die nötigen Maschinen ab. Am Ende bleibt ein kläglicher Rest, um die Kuh zu versorgen und ihr ein gutes Leben zu ermöglichen. An diesen Beispielen wird deutlich: Die Verantwortung für eine gute Behandlung der Tiere tragen in erster Linie nicht die Landwirte, sondern die Konsumenten. „Wer zahlt, schafft an“, sagt ein altes Sprichwort. Solange der Konsument an jedem Cent für Lebensmittel geizt, kann der Bauer dem Tier kein gutes Leben ermöglichen.

Tiergerechtigkeit: Ein „work in progress“

So wie das 18. Jh. noch weit von der Abschaffung der Sklaverei und erst recht von der Beseitigung der Rassendiskriminierung entfernt war, so wie das beginnende 20. Jh. noch weit von der Gleichberechtigung der Frau entfernt war, ist das gegenwärtige 21. Jh. noch weit von der gerechten Behandlung der Tiere entfernt. Und so wie wir auch heute noch keine volle Gleichberechtigung der Rassen und Geschlechter erreicht haben, wird es auch noch lange keine volle Gerechtigkeit gegenüber Tieren geben. Es handelt sich um ein „work in progress“ vieler Menschheitsgenerationen. Aber: Der Tag wird kommen! Das ist unsere christliche Hoffnung, wie sie sich in Deborah Sengls Kreuzweg ausdrückt. |

Autor: Univ.-Prof. Dr. Michael Rosenberger, von 2006 bis 2010 Rektor und von 2010 bis 2014 Prorektor der Katholischen Privatuniversität (KPU) Linz, ist Katholischer Priester, Vorstand des Institutes für Moraltheologie an der KPU und Leiter der interdisziplinären Arbeitsgruppe zur Erforschung der Mensch-Tier-Beziehung.

Erstveröffentlichung in: "Mensch und Tier. Impulse für ein schöpfungsgemäßes Miteinander", Jahrbuch der Diözese Gurk 2017, (Redaktion: Pressestelle der Diözese Gurk).