„Vergiss den Planeten - rette den Garten!“

Was Gartenarbeit mit den vier großen Tugenden und Humanität zu tun hat

„Vergiss den Planeten – rette den Garten!“, das klingt verdächtig nach einem Rückzug in den stillen idyllischen Winkel, während die Welt in Trümmer fällt. Zu diesem Wahl­spruch bekannte sich der aus England stammende Autor Colin Cotterill, der einen langwährenden und ­wie er einsehen musste vergeblichen Kampf führte, „um den Planeten von all dem ‚Mist‘ zu befreien, den wir ihm aufbürden“. Der Verdacht stellt sich deshalb ein, weil wir uns an einen Effi­zienzbegriff gewöhnt haben, den die indust­rielle Produktion uns eingehämmert hat. Ihre Effizienz beruht darauf, sich auf einen immer enger werdenden Zweck zu konzen­trieren. Als effizient gilt ein Produktions­vorgang – „Produktion“ bezieht sich hier sowohl auf Waren als auch auf warenför­mige Dienstleistungen – dann, wenn dieser spezielle Zweck mit dem geringsten Auf­wand an Zeit, Geld und menschlicher Arbeitskraft erreicht wird. Alle negativen Begleiterscheinungen dieser stupide zuge­spitzten Zweck­Mittel­Relation werden dabei generös außer Acht gelassen.

Die Ernte im Garten schärft den Blick für das Verhältnis zwischen Anstrengung und Ertrag und lehrt einen Widerwillen gegen die Ver­schwendung. (Foto: Neumüller)
Die Ernte im Garten schärft den Blick für das Verhältnis zwischen Anstrengung und Ertrag und lehrt einen Widerwillen gegen die Ver­schwendung. (Foto: Neumüller)

Die „Umsonstigkeit“ der Gartenarbeit

Aber Gartenarbeit erschöpft sich nicht in einem einzigen in Geldwert messbaren Nutzen. Ihr fällt beiläufig und gratis eine Menge „Kollateralnutzen“ zu. Sie spart Zeit, indem sie sie verausgabt, Geld, indem sie es nicht braucht, Raum, indem sie ihn pfleg­lich nutzt, Kraft, indem sie der Mühe Sinn entlockt, und Natur, indem sie ihr nicht schadet. Bei der Gartenarbeit ist vieles „umsonst“; nicht im Sinne von „vergeb­lich“, sondern im Sinne von „gratis“. Diese „Umsonstigkeit“ macht ihr Wesen aus.

Loblied des Gartens

Marianne Gronemeyer über ihre Garten­arbeit: „Ich will das Loblied des Gartens singen.“ (Foto: Gronemeyer)
Marianne Gronemeyer über ihre Garten­arbeit: „Ich will das Loblied des Gartens singen.“ (Foto: Gronemeyer)

Auf die Gefahr hin, pathetisch zu werden, will ich das Lob­lied des Gartens singen, den ich seit drei Jahren „bebaue und bewahre“. Ich will von den Zugaben reden, die mir dieser Garten überreichlich spendiert, so großzügig, dass kaum noch zu unterscheiden ist, was sein Haupt­ und was die Nebennutzen sind. Ein wahrer Segen von Zugaben ist hier zu ern­ten, wobei der Segen schon die erste und vielleicht wichtigste von ihnen ist; Segen, verstanden im alten jüdischen Sinn, als eine Übertragung von Kraft. Die Arbeit im eigenen Garten kräftigt. Sie ist erschöpfend, ermüdend und anstrengend, aber sie zehrt nicht aus. Sie gibt die Kraft, die an sie ver­ausgabt wird, dem Gärtner als Stärkung zurück.

Garten als philosophischer Ort

Das Hauptanliegen der Gartenarbeit ­- sofern es sich nicht um die zum reinen ästhetischen Genuss geschaffene Gartenanlage handelt ­- ist natürlich die Erzeugung von Nahrung für die eigene Küche. Das gelingt mehr oder weniger gut. Am Anfang eher weniger, weil die Fehler und Versäumnisse, die man dem Garten zumutet, sich dadurch rächen, dass es nichts oder fast nichts zu ernten gibt.
Das ist also die zweite Zugabe, dass der Garten mich unablässig etwas unmittelbar Nützliches lehrt und mir zu denken gibt. Wenn Aristoteles recht hat, dass Staunen der Beginn allen Philosophierens ist, dann ist der Garten ein zutiefst philosophischer Ort, denn hier ereignen sich tagtäglich veri­table Wunder. Das Wunder, dass aus unan­sehnlichen Essensresten und Gartenabfäl­len binnen eines Jahres auf dem Kompost­haufen schwere, schwarze, krümelige Erde entsteht, die der nächsten Pflanzengenera­tion zur Nahrung gereicht. Oder das Wun­der, dass aus einem winzigen Samenkrü­mel in wenigen Wochen eine kräftige, Früchte strotzende Tomatenpflanze oder eine golden strahlende, übermannsgroße Sonnenblume erwächst. Wie kann in etwas so Winzigem und Unscheinbarem die Kraft zu etwas so Üppigem stecken?

Garten als Lehrmeister

Es ist ein Merkmal subsistenter Tätigkeit, dass sie unaufhörlich lehrreich ist. Die Behauptung, sie sei wiederholsam und stumpfsinnig, ist eine üble Propaganda. Der Garten ist ein perfekter Lehrmeister, der das Bildungs­system „austrickst“ und das „Schwarzler­nen“ begünstigt. Regenwürmer, Kartoffel­käfer, der Grund und Boden selbst, Kraut und Unkraut sind sein Lehrpersonal und natürlich der gärtnernde Nachbar jenseits des Zaunes.
Mit dem Garten verbindet mich ein Ver­hältnis auf Gegenseitigkeit, das sich funda­mental von der rechenhaften Tauschgesin­nung, die in der Warenwelt gilt, unterschei­det. Dem Garten bin ich etwas schuldig, für ihn fühle ich mich zuständig. Ich muss zum Beispiel da sein, während der Zeit der Saat und der Ernte und während der Dürre, um ihn zu wässern. Das schränkt die Mobilität während der Hochzeiten der Gartenarbeit erheblich ein, und das mag nun als das Gegenteil einer „Zugabe“ erscheinen, eher als eine herbe Pflicht, eine Angebunden­heit, die mir meine Entscheidungsfreiheit beschneidet.

Lachen, Freude und Genuss

Aber das ist immer der zu zahlende Preis, wenn ich mich mit jemandem oder etwas einlasse in der Welt. Jede Aufgabe, der ich mich mit Ernst widme, ist von dieser Art, dass sie mir etwas zu tun aufgibt und mich nötigt, ande­res dafür aufzugeben. Aber ist es überhaupt ein Preis, eine Einbuße, ein Verzicht?
„Der Kampf, der nötig ist, um alltägliche Probleme zu lösen, hat überhaupt nichts (...) Trübsinniges an sich. Im Gegenteil, in dem Augenblick, da sich der Erfolg einstellt, gibt es einen Augenblick des Lachens, der riesi­gen Freude“, schreibt George Steiner in sei­nem Buch „Grammatik der Schöpfung“. Die Zuständigkeit, die in Verhältnissen auf Gegenseitigkeit entsteht, ist demnach die Bedingung dafür, dass wir uns freuen und in ein großes Lachen ausbrechen können. Die aus Erlebnisgier erzwungene Mobilität erübrigt sich buchstäblich, wenn der Gar­ten ruft. Sie hat gar nichts Verführerisches mehr. Wenn das keine Zugabe ist!
Zum großen Lachen und zur Freude gesellt sich noch der Genuss, der Genuss an einfachen Dingen, der unvergleichlich ist.

Wertschätzung und Aufmerksamkeit

Das eigene Erzeugnis, das ich mit Mühe und Sorgfalt großgezogen habe und dessen Zeuge ich beim Gedeihen war, dessen Unverfälschtheit ich bezeugen kann, erfreut sich natürlich einer viel größeren Wertschätzung und Aufmerksamkeit als ein Produkt, für das ich ein paar Euro hin­blättere, zu dem ich aber sonst in keinerlei persönlicher Beziehung stehe.
Aber das eigene Erzeugnis ist auch unabhängig von meiner Zuneigung von besserer Art, und sei es nur darum, weil es aus einer Ökonomie der kurzen Wege kommt. Welch ein Unterschied, ob ich die Erbsen oder Erdbeeren ein paar Meter vom Garten in die Küche trage oder ob sie, aus Argentinien kommend, Tausende von Kilo­metern zurückgelegt und eine ganze Welt­maschinerie in Gang gesetzt haben, ehe sie in meiner Küche landen!

Beziehung zu den Früchten

Apropos Zuneigung: Die Beziehung zu den Früchten des Gartens entsteht ja tatsächlich dadurch, dass ich mich, bevor ich sie genießen kann, viele Male zu ihnen herabgeneigt habe, beim Hacken und Anbinden und Wässern. Dieses sich Zuneigen ist ja nicht nur eine arbeitstechnische Notwendigkeit, sondern auch eine Verbeugung, eine Geste des Res­pekts, der Demut und der Dankbarkeit. Denn die Erfahrung beschert mir der große Lehrmeister ja tagtäglich, dass das Gedei­hen nicht allein mein Verdienst ist. Wieviel Mitarbeiter sind notwendig, damit sich das Gelingen, das mich lachen lässt, auch ein­stellen kann: der Regen, die Sonne, der hof­fentlich maßvolle Appetit der Schnecken, alles Getier, was im Boden für dessen gute Balance sorgt, das herabfallende Laub der Bäume im Herbst, das den Boden düngt und vor dem Austrocknen schützt. Der Garten erinnert mich daran, dass das Gedeihen zwar auch, aber wahrlich nicht nur mein Verdienst ist.

Der Garten und die vier großen Tugenden

Er lehrt vier große Tugenden: die Demut, die Dankbarkeit, die Geduld (aber auch die Ungeduld) und die Mäßi­gung. Mäßigung kann man überhaupt nur durch eigenes Tun lernen, denn nur dann weiß man, welcher Anstrengung es bedarf, damit man sein Auskommen findet und kann seine Ansprüche danach ausrichten. Als Konsumenten wissen wir von diesem Verhältnis zwischen Anstrengung und Ertrag rein gar nichts mehr.
Aber damit nicht genug: Eigenarbeit lehrt einen Widerwillen gegen die Ver­schwendung. Was früher selbstverständ­lich zu einer guten Hauswirtschaft gehörte, nämlich dass dafür gesorgt wurde, dass „nichts umkam“, haben wir gründlich ver­lernt. Mehr noch: Die industrielle Produk­tion ist systematisch auf Verschwendung aus, obwohl wir längst wissen, wie ruinös sie ist und wie teuer schon wir und erst recht unsere Nachkommen diese Wegwerf­mentalität bezahlen müssen.
Subsistenztätigkeit erspart uns zwei moderne Geißeln der Menschheit: den Lärm und den Müll. Schon längst werden uns die Gehörgänge mit Maschinenlärm verstopft, und der Müll bedeckt den Globus wie ein stinkender Schimmelüberzug.

Ganzheitliche Anforderungen durch Gartenarbeit

Die Sorgfalt des Gärtners erweist sich geradezu daran, dass er keinen Müll hinterlässt. Für alle Abfälle des guten Gartens hat die Natur Zersetzungskräfte, mit denen sie das Ausgesonderte wieder in Eigenes verwandelt.
Subsistente Tätigkeiten machen Gebrauch von der Kraft meiner Arme, von der Standfestigkeit meiner Beine, von der Klugheit des Kopfes, von der Zuneigung des Herzens, von der Empfänglichkeit der Seele, vom Geschick meiner Hände, der Wachsamkeit des Auges, der Ausdrucks­kraft der Sprache, der Beweglichkeit des Körpers.

Erfahrung und Tun

Auf all diese Quel­len des persönlichen und gesellschaftlichen Reichtums verzichtet industrielle Tätigkeit. Sie lässt sie brachliegen, um jeweils eine spezialisierte Könnerschaft für einen spezialisierten Zweck auf Hochtouren zu bringen. Welch eine Verschwendung!
„Ein Mensch (…) kann sich auch sein Tun stehlen lassen von anderen. Wenn man uns die Erfahrung nimmt, nimmt man uns unser Tun. Wenn uns unser Tun sozu­sagen aus den Händen genommen wird wie Kindern das Spielzeug, beraubt man uns unserer Humanität.“ (R. D. Laing, Phänome­nologie der Erfahrung, 1969, S.23) |

Die Autorin: Prof. Dr. Marianne Gronemeyer, von 1987 bis 2006 Professorin für Erziehungs- und Sozialwissenschaften an der Fachhochschule Wiesbaden, ist wissenschaftliche Publizistin und Autorin.