Organisation

Referat für Menschen mit Behinderungen

Wertschätzung für den Menschen und seine Arbeit

Paul M. Zulehner über die Verbindung von Arbeit und Wert der Person

 (© Foto: Redaktion)
(© Foto: Redaktion)

Oft wird die Arbeit von Menschen mit Behinderung abgewertet, weil sie nicht leistungsorientiert sei. Was bedeutet Arbeit für den Menschen?

Zulehner: Auch für Menschen mit Behinderung gilt dasselbe wie für uns, die wir Behinderungen eigener Art haben: Arbeit ist etwas, was den Menschen zum Menschen macht. Weil wir durch gute Arbeit schöpferisch tätig und dadurch Ebenbilder des Schöpfergottes sind. Wer keine gute Arbeit hat, bleibt mit seiner Menschwerdung auf der Strecke. Wir leben nicht nur in Beziehungen, wir leben auch in Arbeit; wir leben nicht nur mit jemandem, sondern auch für etwas. Erst wenn diese beiden Beine des menschlichen Lebens, auch wenn sie behindert sind, in Gang kommen, dann „geht“ das Leben gut, dann geht es einem gut. Wenn ich auf nur einem Bein gehe, stolpere ich bald. Es ist ganz wichtig, auch Tätigkeiten, schöpferische Tätigkeiten, im Rahmen dessen, was einem Menschen möglich ist, zu fördern und zu unterstützen.

Wir stellen immer wieder fest, dass auch der Selbstwert stark mit der Arbeit zusammenhängt. Es ist für Menschen mit Behinderung wichtig, wie die anderen in der Früh das Haus zu verlassen, um zur Arbeit zu gehen und am Abend wieder zurückzukommen. Nur ein Stück Normalität, das einfach gut tut?

Zulehner: Arbeit strukturiert natürlich das Leben. Ich kann mich erinnern, wie wichtig es zum einen für meinen behinderten Bruder war, immer zu seiner Zeit beim Teppich zu sitzen und zu arbeiten; das tat er sehr regelmäßig. Und zum zweiten hat er dann mit vollem Stolz gezeigt, was er gemacht hat. Was mir auch in Erinnerung ist: Wenn er einen Fehler gemacht hat und erst später draufgekommen ist, konnte er durchaus einen halben Teppich auflösen und neu knüpfen, damit er ganz in Ordnung war. Er hat seine Arbeit mit einer bewundernswerten Genauigkeit gemacht.

Ist nicht jeder von uns in gewisser Weise abhängig von der Wertschätzung, die er aus seiner Arbeit bezieht?

Zulehner: Wertschätzende Anerkennung wird von vielen gewünscht: von Müttern, die vier Kinder haben, von PfarrgemeinderätInnen, die ihre Zeit und Phantasie für eine Gemeinde zur Verfügung stellen. Anerkennung ist eine Art Grundnahrungsmittel, das aus dem großen Lebensmittel-Topf „Zuwendung“ kommt.

Wird die Arbeit von Eltern, die ihr behindertes Kind oder alternde Angehörige pflegen, angemessen geschätzt? Sie erhalten zwar Pflegegeld, aber das deckt oft den tatsächlichen Aufwand nicht ab.

Zulehner: Ich habe den Eindruck, die Gesellschaft müsste hier transparenter und ehrlicher werden. Sie müsste sagen: Was würde uns das kosten, wenn wir das in eigenen Einrichtungen mit qualifiziertem Personal machen müssten? Tatsächlich macht man es wie in der Wirtschaft: Man betreibt Outsourcing, lagert Kosten aus. Das ist unfair gegenüber denen, die Pflege in der Familie übernehmen: Es ist keine Privatangelegenheit, wenn jemand mit Behinderung zur Welt kommt und durch’s Leben begleitet wird – das ist Leistung, die im Namen der Gesellschaft erbracht wird.  

Aber: Wer pflegend zu Hause bleibt, hat heute keine Sozialversicherung und später keine Altersversorgung.

Zulehner: Genauso ist es leider: Wir stehen für Kinder, Ältere und Menschen mit Behinderung vor der gleichen sozialpolitischen Problematik: Es kann doch nicht sein, dass Menschen während der Pflege an die Armutsgrenze schrammen, wenn sie ihre Erwerbsarbeit für Betreuung und Pflege unterbrechen, oder dass sie im Alter verarmen! Oder dass sie durch die Pflege ihre beruflichen Karrieremöglichkeiten verlieren. Es ist wichtig, dass wir uns bewusst werden, was Leben wert ist und was das Wichtigste in unserem Leben ist. Wir lassen uns zurzeit die Prioritäten durch Wirtschaft, Konsum, Karriere diktieren und übersehen, dass das Leben andere Wertigkeiten hat. Eine tragische Ökonomisierung des gesamten Lebens geschieht.

So dass manchem Leben sogar der Wert abgesprochen wird ...

Zulehner: Die Evolutionstheorie erklärt uns, wie die Entwicklung des Lebens bisher gelaufen ist. Ein solcher Darwinismus ist für gläubige Menschen kein Problem. Was aber zu denken gibt, ist ein neuer Sozialdarwinismus. In diesem zählt letztlich nur das Gesunde und das Starke. Zumeist hat er noch einen neoliberalen Anstrich. Dann heißt es unwidersprochen: Die Leute können sich doch alles selber richten, und zwar alle! Faktisch schaffen das aber nur die Starken und die Gesunden. Diese haben maximale Chancen, während die Übrigen als überflüssig betrachtet werden. Es scheint eine Art „Menschenmüll“ zu geben, also Menschen, denen man die Sorge entzieht und die man in diesem Sinn „ent-sorgt“.

Wäre die Aufwertung von Pflegearbeit, indem man sie in den Rang einer Erwerbsarbeit hebt, kein gewaltiger Schritt nach vorne? In Schweden werden Kindererziehung wie Pflege als Arbeitsleistung honoriert, mit Kranken- und Rentenversicherung.

Zulehner: Für die Eltern gibt es bei uns wesentlich weniger als das, was der Staat beispielsweise in Kinderbetreuungseinrichtungen investiert. Deutschland z. B. zahlt 1.500 € pro Kinderplatz in der öffentlichen Einrichtung und 150 € für die Kinderbetreuung zu Hause. Das ist eine massive Diskriminierung! Dabei ist es den jungen Leuten heute ganz wichtig, selber ihr Leben zu wählen. Aber das können sie erst, wenn sie dabei von der Gesellschaft angemessen gestützt werden. 

 

Zur Person:

Univ.-Prof. em. DDr. Paul M. Zulehner, geb. 1939, ist Religionssoziologe und Pastoraltheologe und lehrte zuletzt an der Universität Wien.