Organisation

Referat für Menschen mit Behinderungen

Wenn Essen zum Ausdruck seelischer Not wird

Gespräch mit Primar Herwig Oberlerchner und OA Ursula Klocker-Kaiser zu Anzeichen und Hintergründen von Essstörungen

 (© Foto: privat/Haab)
(© Foto: privat/Haab)

Welche Essstörungen unterscheiden Sie?
Oberlerchner: Grundsätzlich kann man Essstörungen in drei Kategorien einteilen: die klassische Anorexie oder Magersucht, die Bulimie, d. h. die Ess-Brech-Sucht, und die Binge Eating Disorder, eine Essstörung mit regelmäßigen Heißhunger-Attacken. AnorektikerInnen zeichnen sich durch erhebliches Untergewicht aus mit einem Body-Mass-Index (dieser Index beschreibt das Verhältnis von Körpergröße zu Körpergewicht) oft weit unter 17,5, eine gestörte Körperwahrnehmung, mit dem Wunsch, möglichst schlank zu sein. Die Betroffenen vergessen auf’s Essen, spüren ihren Körper und ihre Bedürfnisse nicht mehr.

Klocker-Kaiser: Die Bulimie ist eine Essstörung, die mit Erbrechen einhergeht. Die PatientInnen können sowohl normalgewichtig als auch untergewichtig sein. Es kommt zum willentlichen Erbrechen, oft auch schon zu verselbständigtem Erbrechen, manchmal mehrmals täglich, mit dem Wunsch, ein Idealgewicht zu halten oder zu erreichen. Bei der Binge Eating Disorder verlieren die Betroffenen beim Essen die Kontrolle, erbrechen aber nicht und entwickeln letztendlich eine Adipositas (Übergewicht). Die Ursachen der Essstörungen sind multifaktorell, gemeinsam ist  der unangemessene Umgang mit dem Essen und der Ausdruck von seelischer Not durch das Essen. Am Beginn von Anorexie und Bulimie steht oft eine Adipositas im Kindesalter oder in der Pubertät gefolgt vom Versuch, ein Idealgewicht zu erreichen.

Welche seelische Not steht dahinter?
Oberlerchner: In der Frühadoleszenz, also mit 12, 13 Jahren, kann es die Not sein, in einen Erwachsenen-Körper hineinwachsen zu müssen, auf den man sich nicht vorbereitet fühlt. Man versucht, viele Impulse, auch Triebimpulse und sexuelle Wünsche, nicht wahrzunehmen. In der Spätadoleszenz, also zwischen 17 und 23, ist der zweite Häufigkeitsgipfel in der Anorexie. Alle Essstörungen können vergesellschaftet sein mit depressiven Erkrankungen, auch mit Angststörungen, Zwangsstörungen oder Substanzmissbrauch.

Welche Rolle spielen familiäre Probleme dabei?
Oberlerchner: Erfahrung körperlicher und sexueller Gewalt, psychische Erkrankung der Eltern sind allgemeine Risikofaktoren, ebenso Verwöhnen oder Vernachlässigung, starre Familienstrukturen, eine hohe Leistungsbezogenheit, der Wunsch nach Überanpassung an die Gesellschaft, Perfektionismus in der Familie. Das kann viele psychische Erkrankungen auslösen, auch Essstörungen.
Spezifische Risikofaktoren sind Diät halten, fehlende Esskultur, die fehlende Wertschätzung des Rituals Nahrungsaufnahme, Hänselei wegen Übergewichts.

Wie weit spielen Selbstbild und Selbstvertrauen eine Rolle?
Klocker-Kaiser: Das ist immer im Hintergrund. Ein brüchiges Selbstwertgefühl wird oft über Leistung kompensiert. Auch der Körper muss dann einem perfekten Ideal entsprechen. Die Essstörung kann die Illusion vermitteln, sich und sein Leben unter Kontrolle zu haben und sich so vor Veränderungen im Leben schützen zu können.


Welche zusätzlichen Faktoren tragen zur Entwicklung einer Essstörung bei?
Oberlerchner: Der/die Erkrankte erlaubt es sich nicht, das Essen zu genießen. Der Geschmack der Nahrung wird nicht mehr wahrgenommen. Man nimmt sich keine Zeit zum Essen, pflegt auch keine Esskultur mehr. Das kann schon Wurzeln in der Kindheit haben: Vielleicht wurde hatte das Essen in der Familie keine angemessene Bedeutung, oder aber es hatte zu große Bedeutung. Daraus entwickelt sich, dass die Nahrung als belebtes Objekt gesehen wird. Dann verschieben Menschen ihre Psychodynamik, ihre Beziehungsgestaltung auf das Objekt Essen. Über die Nahrung und die Nahrungsaufnahme werden psychische Konflikte ausgetragen: Nähe - Distanz, Zuwendung - Abwehr, Habenwollen und Hergeben.

Welche sind denn die Anzeichen psychischer und körperlicher Art, die Eltern aufmerksam machen sollten?
Klocker-Kaiser: Wenn Kinder oder Jugendliche nur mehr die Hälfte essen oder Mahlzeiten auslassen, wenn das Körpergewicht rapid fällt, ist das ein klares Anzeichen für eine Essstörung. Aber auch starke innere Unruhe, Reizbarkeit, Ängste, seinen Körper zu zeigen, sprechen schon dafür, dass Eltern aufpassen sollten. Ebenso ist sportliche Hyperaktivität ein hoher Risikofaktor, der frühzeitig erkannt werden sollte. Vor allem in diesen vulnerablen Lebensphasen wie Pubertät und Ablösung vom Elternhaus liegen die Knackpunkte.

Was kennzeichnet einen angemessener Rahmen für Mahlzeiten?
Klocker-Kaiser: Das Wesentliche ist die Atmosphäre. Regelmäßige Mahlzeiten in einer vernünftigen Umgebung sind sinnvoll.

Oberlerchner: Auch auf die Qualität sollte geachtet werden, dass man z. B. nicht neben dem Fernseher isst. Ich habe noch kennen gelernt, dass man mit einem Tischgebet begonnen hat, wenn alle zusammen waren, und mit einem gemeinsamen Dankgebet abgeschlossen wurde. Das hat schon Gehalt und ein positives Bewusstsein für das Essen geschaffen. Familien, die nicht bei Tisch beten, können mit alternativen Ritualen einen guten Ablauf schaffen: mit einem Dankesspruch das Essen beginnen, sich dazu bei den Händen fassen. Auch die Höflichkeitsregeln sind hilfreich, nämlich dass man erst beginnt, wenn jede/r etwas auf dem Teller hat.

Essstörungen betreffen ja die ganze Familie. Wie kann man innerhalb der Familie damit umgehen?
Klocker-Kaiser: Ganz wichtig: Wenn man Anzeichen einer Essstörung feststellt, muss man es anreden und vor allem zuhören: Was ist die Not? Der oder die Erkrankte soll Raum haben, das zu äußern, was belastet. Es ist lohnend, das zu versuchen: die eigene Sorge um das Kind mitzuteilen, sich für die Probleme der Jugendlichen oder jungen Menschen interessieren; dabeibleiben und versuchen, Freunde mit einzubeziehen; schauen, was es in der Familie an Ressourcen gibt, die hilfreich sein können. Es geht ja zuerst ums Artikulieren von Problemen, das bei dieser Erkrankung oft verwehrt ist, weil der oder die Betreffende es nicht gewöhnt sind, über ihre Gefühle und Probleme zu sprechen. Sobald die Symptomatik stärker ist, sollte man natürlich sofort fachliche Hilfe in Anspruch nehmen.

Wie schauen die Behandlungsschritte in Ihrer Abteilung aus?
Klocker-Kaiser: Zuerst klären wir die Erkrankung ab: Was spielt alles mit? Welche psychische Erkrankung ist zusätzlich zu beachten, welche körperlichen Erkrankungen? Dann erfolgen die Wiederherstellung eines vernünftigen Essverhaltens und die Planung der weiteren Therapieschritte. Zuerst muss der Körper sich regenerieren, denn es gibt ja z. B. Elekrolytentgleisungen durch das Erbrechen, Herzrhythmusstörungen ... Manchmal braucht es dazu Medikamente, in Extremfällen muss jemand auch eine Ernährungssonde bekommen. Der Internist unterstützt uns dabei. Wenn das körperliche Befinden halbwegs stabil ist, können wir weitergehen.

Werden Angehörige in die therapeutische Behandlung mit einbezogen?
Oberlerchner: Familiengespräche oder Partnergespräche führen wir regelmäßig, die Einbeziehung der Angehörigen ist sehr wichtig, die Entstehungsgeschichte wird diskutiert, Aufklärungsarbeit geleistet.

Wie geht es nach dem stationären Aufenthalt weiter?
Klocker-Kaiser: Psychotherapien im klassischen Sinn können wir in der knappen Zeit, die wir haben, nicht führen, wohl aber sie einleiten. Wir bemühen uns aber seit langem, dass die Nachsorge außerhalb der Klinik durch gute Ansprechpartner gewährleistet ist. Wir haben verschiedene Kooperationspartner, z. B. das Mädchenzentrum, die niedergelassenen PsychotherapeutInnen, die FachärztInnen, auch die entsprechenden Abteilungen am LKH Villach oder im KH Waiern ... Aus diesem Grund habe wir auch das ambulante Nachsorgeteam gegründet, das vom Kärntner Gesundheitsfonds finanziert wird.

Wie lange dauert so eine Behandlung insgesamt?
Klocker-Kaiser: Je früher, desto schneller und besser geht es. Wenn Menschen erst dann kommen, wenn sie körperlich schwerst erkrankt sind und nur noch 25 kg haben, kann die stationäre Behandlung bis zu 3 Monaten dauern. Wenn welche mit leichteren Essstörungen kommen, die früh erkannt wurden, kann man sie schon nach wenigen Wochen in die ambulante Behandlung entlassen. Von Alkoholsucht wissen wir, dass man erst zwei Jahren sagen kann: Jetzt ist die erste Rückfallgefahr gebannt. Jetzt beginnt die ambulante Nachsorge: Bei PatientInnen mit Essstörungen ist die Rückfallgefahr in alte Muster, alte Verhaltenweisen noch größer. Um diese Muster aufzuweichen, bieten wir einmal pro Woche Gruppengespräche an, versuchen eine Esskultur aufzubauen durch eine Koch- und Essgruppe. Die PatientInnen werden auch zu Hause aufgesucht, um Probleme im Alltag zu besprechen. So haben sie eine größere Chance umzulernen. Es gibt auch jemanden, der bei Krisen am Arbeitsplatz oder in der Familie zur Seite steht. Sehr hilfreich ist auch eine Ernährungstherapeutin vor Ort, die vom Einkauf bis zum Kochen beraten kann.

Kann man Anorexie ganz heilen?
Oberlerchner: Anorexie ist prinzipiell heilbar. Nach 2 Jahren erfüllt ein großer Prozentsatz bei Anorexie wie auch bei Bulimie nicht mehr die Kriterien einer Erkrankung. Bei einem anderen Teil kann es zu einer Chronifizierung kommen. Bei ihnen verhindern wir mit unseren Bemühungen Schlimmeres, denn es ist eine gefährliche Erkrankung.

Das Gespräch führten Claudia van Kessenich und Georg Haab.

 

 

Zur Person:

Herwig Oberlerchner ist Primar der Landespsychiatrie Klagenfurt, Oberärztin Ursula Klocker-Kaiser Leiterin der dortigen Abteilung für Essstörungen. 

 

Anzeichen im Verhalten

körperliche und geistige Hyperaktivität
häufige Stimmungsschwankungen, widersprüchliches Verhalten
zwanghaftes Messen von Kalorien und Gewicht
dunkle Gedanken
verfälschte Körperwahrnehmung: Anorektische Menschen finden sich zu dick, obwohl sie offensichtlich mager sind
ungewöhnlich hohe Flüssigkeitsaufnahme (Tee, Kaffe, Light-Getränke)
Einnahme von Abführmitteln, Brechmitteln, Appetithemmern
sozialer Rückzug, Verschlossenheit
Vermeidung von Mahlzeiten

körperliche Anzeichen

Aussetzen der Regel bei jungen Mädchen (Amenorrhoe)
Appetitlosigkeit
auffällige Gewichtsabnahme
Verstopfung
Kälteempfindlichkeit
niederer Blutdruck
Unwohlsein
Schlaflosigkeit

Entwicklung und Sterblichkeit

60-70 % der Anorektiker werden geheilt, psychische Probleme sind möglich (Anfälligkeit für Depression, niedriges Selbstwertgefühl, Agoraphobie, Psychosen ...)
20 % bleiben chronisch krank, die Sterblichkeitsrate ist bei ihnen höher als bei anderen Menschen ihres Alters
10-15 % sterben durch Suizid oder körperliche Komplikationen