Organisation

Referat für Menschen mit Behinderungen

Seelsorge, die aus den Quellen der eigenen Erfahrung schöpft

Barbara Neugebauer ist Seelsorgerin in einem Reha-Zentrum und seit einem Unfall blind.

 (© Foto: Neugebauer)
(© Foto: Neugebauer)

Frau Neugebauer, als Seelsorgerin im Rehabilitationszentrum Weißer Hof in Klosterneuburg begleiten Sie Menschen, deren Leben sich verändert hat. Was sind Ihre Erfahrungen?
Neugebauer: In meiner Arbeit als Seelsorgerin in der Begleitung von Menschen, die nach einem Unfall oder einer Erkrankung plötzlich lernen müssen, mit einer völlig veränderten, oft sehr schwierigen Situation umzugehen, finde ich im Wesentlichen fünf Phasen der Trauer in Anlehnung an das Modell von Kübler-Ross: das Leugnen oder Nicht-wahrhaben-wollen, die Phase des Zorns, das Verhandeln-wollen, die Depression und manchmal, sehr vereinzelt das Annehmen. 

Können Sie Gemeinsamkeiten oder Unterschiede bei den Menschen feststellen?
Neugebauer: Mehrheitlich stoße ich in der Begleitung auf die Phase des Nicht-wahrhaben-wollens. Eine Patientin, die amputiert wurde, erzählt von ihren Hoffnungen nach der Rehabilitation wieder mit Stöckelschuhen tanzen zu können. Manche  Patienten können – zumindest zeitweise – ihre Situation annehmen.  Andere wiederum befinden sich in der Phase des Zorns, wenn sie etwa die quälende Frage nach dem „Warum?“ oder „Warum ich?“ stellen. Eine Frau quälte diese Frage so sehr, dass sie seitdem mit Gott hadert. Andere versuchen einen Handel mit Gott einzugehen. Manche wollen am liebsten weg rennen oder nicht mehr leben. Todessehnsüchte und Suizidgedanken können sich in der Depression zeigen.

Sprechen Sie mit den Menschen auch über ihren Glauben, ihr Gottvertrauen?
Neugebauer: Manche wollen mit mir über ihren Glauben sprechen und andere wollen das Thema nicht einmal streifen, weil der Zorn auf Gott oder die Enttäuschung über die Kirche eine undurchdringbare Mauer bauen. Oftmals stehen ganz andere Themen im Vordergrund. Derzeit absolviere ich eine Ausbildung über die spirituelle Begleitung in der globalisierten Gesellschaft. Ich hoffe, damit Andersgläubige und Menschen mit anderen oft ganz konträren Weltanschauungen auch in ihren Glaubensfragen besser begleiten zu können.

Welche Bedeutung haben Familienangehörige und Freunde?  
Neugebauer: Die Begleitung im Leiden erleichtert das Ertragen des schweren Schicksalschlages bzw. lindert den seelischen Schmerz. Angehörige und Freunde sind meist Halt und Stütze. Aber falsch gegebener Trost, leere Worte, kein echtes Mitgefühl, stattdessen falsches Mitleid, das kein Mit-leiden ist, können auch sehr schmerzhaft sein. Wenn ein Angehöriger am Unfall beteiligt war, zeigt sich, dass dieser in der Leidbewältigung für den Partner, der die Folgen des Unfalls ertragen muss, im Augenblick keine Stütze sein kann. Für viele ändert sich der Freundeskreis nach dem Unfall bzw. der Erkrankung. Die Angst vom Partner verlassen zu werden ist berechtigt, denn viele Paare trennen sich nach einem Unfall.

Wie sind Sie Seelsorgerin am Weißen Hof geworden?
Neugebauer: Aufgrund meines ursprünglichen Berufswunsches, Pastoralassistentin und Religionslehrerin zu werden, begann ich mein Theologiestudium. Nach einem Asthmaanfall, der zu einem Herzkreislaufstillstand führte, musste ich mein Studium für einige Jahre unterbrechen. Anfangs waren die Prognosen der Ärzte äußerst schlecht, ich würde entweder nicht mehr aus dem Koma aufwachen und wenn doch,  geistig behindert sein. Die Ärzte haben sich geirrt. Gott hat einen anderen Weg mit mir vor. Nach fünf Wochen Koma und jahrelanger Rehabilitation am Weißen Hof und in einer Einrichtung für Späterblindete konnte ich mein Studium abschließen.
Für mich als blinde Frau mit einer ataktischen Gangstörung und teilweise noch vorhandener Spastik in den Händen war nun das Studium bei weitem schwieriger als vorher. Meine Freunde und meine Familie unterstützen mich großartig.
Ich sehe es als Geschenk Gottes, dass sich mein allergrößter Wunsch erfüllte, als Seelsorgerin am Weißen Hof zu arbeiten. Menschen auf ihrem Weg der Rehabilitation, den ich auch einmal gegangen bin, zu begleiten und ihnen Kraft und Hoffnung aus dem Glauben, der mich trägt, zu schenken, sehe ich als meine Berufung.

Was ist Ihnen noch wichtig?
Neugebauer: Jeden möchte ich ermutigen, Träume zu haben und an eine Zukunft zu glauben. Obwohl ich damals nicht einmal meinen kleinen Finger bewegen konnte, hatte ich das Ziel, mein Studium abzuschließen. Dank meines Glaubens, meiner Familie und Freunde habe ich dies erreicht. Im Streiten und manchmal auch Hadern mit Gott erfahre ich auch die Nähe Gottes und glaube an die Verheißung: „Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: … Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu.“  (Offb 21,4-5a)
Was hilft Menschen, ihre Behinderung anzunehmen?
Eine Behinderung kann ich in dem Maße annehmen, wie ich von den Mitmenschen als mit gleicher Würde ausgestattet angesehen und gleich behandelt werde. Wo man sich diesen Status der gleichen Würde und desselben Wertes erst erkämpfen muss, kann es einem nur schwer fallen, die Behinderung anzunehmen. Wo ich mich geliebt weiß, wie ich bin in meinem Fall mit einer Blindheit und Gehbehinderung, da kann ich voll und ganz Ja sagen zu meinem behinderten Leben. Denn ich weiß, ich bin mehr als eine Last, ich bin mehr als nur die Hilfsbedürftige, ich bin auch jemand, der etwas geben kann. Ein gegenseitiges Geben und Nehmen muss es sein, dann kann man Ja sagen zu jeder Aufgabe im Leben.

 

Interview: Renate Trauner