Organisation

Referat für Menschen mit Behinderungen

Oft hatte ich keine Kraft mehr weiterzuleben

Angelina Pucher erkrankte mit 10 Jahren an Magersucht. Heute kann sie versöhnt auf diese Zeit zurückschauen.

Wie sich bei mir die Magersucht entwickelt hat? Wohl wie bei vielen. Ich war ein etwas dickliches Kind, ein Teenie, der wohl viel zu schnell Frau geworden ist und damit absolut nicht zurecht kam. Ich fühlte mich in unserer Gesellschaft (ich bin eine gebürtige Deutsche) nicht verstanden. Wehrte mich, seit ich Kind war, gegen dieses „Das tut man doch nicht“ und „was sollen denn die Leute denken“. Meine Eltern hatten eine Firma und wenig Zeit für uns drei Kinder. Mein Großvater war der einzige, bei dem ich mich verstanden fühlte. Er nahm mich oft mit in den Wald und sagte zu mir: „Menschen die gut sind, verstehen jede Sprache, auch die der Blumen und Tiere. Denn alle Geschöpfe, die gut sind und gut sein wollen, sprechen die Sprache der Liebe, der Schönheit und der Güte Gottes.“ Wir haben zusammen gebetet, der Natur gelauscht und waren ein Teil in Gottes großem Schöpferplan. Mein Opa starb, als ich 10 Jahre alt war, und damit begannen für mich Leid und Zweifel an Gott. Warum Kriege, warum sterben so viele Kinder am Hunger, warum Krankheit, Seuchen, Katastrophen? Ich verstand diesen Gott nicht mehr und zog mich zurück in eine große traurige Einsamkeit. Nur im Wald, in der Natur fand ich Frieden.

Von 64 kg hungerte ich in 3 Monaten auf 39 kg ab. Längst hatte ich die Kontrolle über das Essen verloren. Tagelang ernährte ich mich von einer Scheibe Brot und einem Apfel pro Tag, um dann wieder alles in mich hineinzufressen, was ich zum Essen fand, und danach kotzen zu gehen. Mit 15 Jahren durfte ich in den Bergen, in der Asten, wo ich mit meinen Eltern immer im Urlaub war, bei einer alten Sennerin auf der Alm übernachten und wollte nicht mehr von dort gehen. Aber ich musste ja wieder zurück, wieder in die Stadt. Ich maturierte, machte eine Lehre zur Einzelhandelskauffrau, um das elterliche Geschäft zu übernehmen – aus purem Pflichtbewusstsein. Die Zeit der langen Krankheit hüllte mich ein wie ein schwarzes Tuch. Warum bin ich auf der Welt? Warum bin ich Deutsche? Ich fühlte mich mitschuldig an den Gräueln der Geschichte. Magersucht, Bulimie, schwere Depressionen, Selbstmordversuche, Tablettenmissbrauch ... Bis ich dann in die Klinik kam.
Ein ganzes Jahr war ich in der psychosomatischen Abteilung eines Stuttgarter Krankenhauses. Verhaltenstherapie, Musiktherapie, Gestalttherapie, Körperwahrnehmung – das ganze Programm. Lange kämpfte ich gegen die Ärzte und Schwestern, ehe ich mich für das Leben entschied und mir helfen ließ. Mit vielen Rückschritten. Oft hatte ich keine Kraft mehr, weiter zu leben, wollte einfach aufgeben, liegen bleiben …
Ein Wunsch hielt mich in all der Not zurück, diesen letzten Weg zu gehen, der Wunsch: „Einmal in meinem Leben möchte ich noch auf die Alm kommen, in die Asten, dann kann alles aus sein.“ In diesem Krankenhausjahr stellte sich mein toter Opa ganz an meine Seite, es war mir, als würde er leben und mir helfen zu leben. Später fragte ich mich, ob man dies als „Auferstanden von den Toten“ verstehen kann.
Ich begann Medizin und Psychologie zu studieren.
Mein Papa brachte mich in den Ferien auf die Alm in der Asten. „Jetzt kommst du heim“, breitet sich der Gedanke wohlig in mir aus.
Aus 6 Wochen wurden 16 Wochen. Eigentlich wollte ich meine Diplomarbeit schreiben. Doch diese Arbeit habe ich nicht mehr beendet. Dafür schlug ich ein neues Kapitel in meinem Leben auf. Ich lernte Hubert, meinen Mann, kennen. Ich fühlte mich heimisch und geborgen. Aus der kleinen magersüchtigen Angelika ist eine junge Frau geworden, Angelina. Aus dem Gefühl des Nicht-leben-Könnens entsprang das zarte Pflänzchen der Hoffnung.

Ein Traum wird wahr. Ich beginne dort in den Bergen ein neues Leben. Ergreife meine zweite Chance. Keiner kennt mich, keiner weiß von meiner Vorgeschichte, außer Hubert. Die Natur, die Tiere, die Berge, die Einsamkeit, die Liebe, ein tiefes Gottvertrauen helfen mir zu leben.
Aus der deutschen Urlauberin ist eine deutsche Kärntnerin geworden.
Heute, 20 Jahre später, habe ich vier gesunde Kinder, bin Bäuerin und Fotografin geworden, habe mein viertes Buch veröffentlicht. Damals im Krankenhaus begann ich zu schreiben. Schrieb, um mich vom Essen und Kotzen, von den Tabletten abzulenken, schrieb alles auf, was ich erlebte im außen wie im innen. Schreiben ist mir zu meiner besten Medizin geworden.
Von allen Suchtmitteln, wie Alkohol, Nikotin, Drogen, kann man sich distanzieren, nur vom Essen nicht, dies muss man, ob man will oder nicht. Und da wieder einen begehbaren Weg zu finden, ist das Problem. Auch heute noch habe ich ein gestörtes Körperbild. Auch heute noch esse ich viele Lebensmittel einfach nicht. Trotzdem ich kann mich zu den Geheilten zählen. Ich bin dankbar für meinen Weg mit allen Irrwegen und Umwegen, für die Dunkelheit in meinem Leben. Sie haben mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Die Dunkelheit hat mich gelehrt, das Licht zu suchen und zu finden. Die Angst, die Menschen im Krankenhaus verlassen zu müssen, ließ mich erkennen: „Von Gott darf ich grenzenlos abhängig sein, ihn muss ich niemals mehr verlassen.“ Ich habe ein Leben gefunden, wo ich meine Eigenständigkeit nicht aufgeben musste. Ich habe mich selbst gefunden.

„Wisse, dass alles, was dir unerwartet widerfährt, ein Geschenk Gottes ist, das dir zum Segen gereichen wird, wenn du es voll nutzt“, schrieb ich als Vorwort in mein Buch.
So tanze ich mein Leben, bin auch Tanz- und Bewegungstherapeutin geworden, habe im Juni 2012 meine Diplomarbeit geschrieben und viele alte Verletzungen noch einmal angeschaut und versöhnt.
So ist mir Schreiben und Tanzen, die Natur, mein Gottvertrauen, der Luxus der Einsamkeit, die Familie … zu meiner Medizin geworden.

 

Zur Person:

Angelina Pucher, geboren in Deutschland, erkrankte mit 10 Jahren an Magersucht. Immer tiefer wurde sie in den Strudel der Selbstzerstörung gezogen. Heute lebt sie mit ihrer Familie auf einem Bergbauernhof in Heiligenblut und kann versöhnt zurückschauen, wie sie zu diesem neuen Leben geführt wurde.

Buchtipp: Angelina Pucher, Ich nehme die Herausforderung meines Lebens an. Fischer Verlag, € 19,50.

Zur ihrer Homepage: siehe "Externe Links" (oben rechts)!

 

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Wenn Essen zum Ausdruck seelischer Not wird

Zurück ins Leben: Therapiezentrum Weidenhof bei Grafenstein