Organisation

Referat für Menschen mit Behinderungen

Mit multipler Sklerose leben

Die aktuelle Ausgabe von "Schatten & Licht"

 (© Foto: Haab)
(© Foto: Haab)

Die Arche wurde von Laien gebaut, die Titanic von Profis.

Vor einigen Tagen begegnete mir dieser einfache, provokante Satz, im Gespräch mit einem Menschen mit Multipler Sklerose, und er bekam für mich eine tiefere Bedeutung.
Einige Tage hatte ich das Gespräch hinausgeschoben, weil ich Sorge hatte, meinen Gesprächspartner falsch oder sogar gar nicht zu verstehen.

Für dieses Gespräch musste ich meinen doch stressigen Arbeitsalltag loslassen und mich auf die Begegnung mit dem Menschen mit MS einlassen. – Einige Stunden später auf der Heimfahrt mit dem Fahrrad spürte ich ein inneres Glück, das aus dieser Begegnung gewachsen war.

Für einen begeisterten Radfahrer kann es schon ein Erfolgserlebnis sein, wenn er drei Kollegen überholt und auf der Geraden ein flottes Tempo fährt. Das Glück, das aus der gelungenen Begegnung mit diesem Menschen entsprungen war, war für mich von einer anderen Qualität. In der Begegnung war etwas wie die Berührung mit einer Welt, in der andere Werte zählen als in unserer leistungsorientierten, hektischen Arbeitswelt; es war ein wenig vom Reich Gottes spürbar.

Obwohl es mich Kraft kostete, mich von der einen auf die andere Welt einzustellen, wusste ich, dass ich mich bewusst und selbstständig dafür entschieden habe. Mein Gesprächspartner hatte dagegen nicht diese Freiheit. Was das kostet, wissen nur Betroffene.
Ein kleiner Unfall, und unsere Leistungsfähigkeit ist dahin. Speed kills. „Die Titanic wurde von Profis gebaut, die Arche wurde von Laien gebaut.“ Das ist der Unterschied: Das Schiff, das Noah baute, rettete Menschen und Tieren das Leben. Es war nicht auf Leistung hin optimiert. Es war ein handwerklich nicht perfektes, aber von Liebe getragenes Werk. Noah baute seine Arche, weil die Lebewesen, die Gott geschaffen hatte, wertvoll waren. Er konnte ihren Wert, ihre Einzigartigkeit, ihre Schönheit entdecken.
Bauen auch wir mit an einer solchen Arche! Nicht nur Menschen mit Multipler Sklerose werden dankbar dafür sein, nicht nur Menschen mit der einen oder anderen Beeinträchtigung, sondern wir alle werden letztlich davon profitieren.

Multiple Sklerose ist die Krankheit mit 1000 Gesichtern. Aufgrund der so unterschiedlichen Symptome ist es so schwierig, eine richtige Diagnose zu erstellen. Die Betroffenen stürzen in große Unsicherheit, weil Art und Geschwindigkeit des Krankheitsverlaufs kaum vorhersagbar sind. Viele fragen sich, wie sie diese Last und diese Unsicherheit ertragen können. Dazu gesellt sich die für so viele kranke Menschen quälende Frage: Warum gerade ich? Was habe ich falsch gemacht?
Die Suche nach Antwort bleibt eine Lebensaufgabe.
Vielleicht öffnen die Worte der Betroffenen in diesem Heft dem ein oder anderen verborgene Türen.
Vielleicht kommt der ein oder andere seiner Antwort näher.
Vielleicht verwandelt auch der Leser seine Fragestellung von „Was habe ich noch von dieser Welt?“ zu „Was kann ich auf dieser Welt noch Gutes tun?“.
Vielleicht finden Sie in diesen Artikel Wege zu einer Antwort. Viel Freude bei der Lektüre!