Organisation

Referat für Menschen mit Behinderungen

Das Lebensende gestalten - mit Menschen mit Behinderung

Aus den Erfahrungen der Arche-Gemeinschaften

Astrid Froeb (© Foto: Arche Tecklenburg)
Astrid Froeb (© Foto: Arche Tecklenburg)

„Arche“: Das sind Gemeinschaften des Glaubens nach einer Initiative von Jean Vanier, in Deutschland mit christlich-ökumenischer Ausrichtung und rechtlich anerkannt als stationäre Einrichtungen der Behindertenhilfe. Das Kennzeichnende der Arche besteht darin, dass Menschen mit und ohne geistige Behinderung das Leben miteinander teilen. Eine Hausgemeinschaften besteht aus sechs bis fünfzehn Personen, die Hälfte davon sind Menschen mit einer geistigen Beeinträchtigung. Die Arche bietet dem Menschen lebenslang ein zu Hause, und wenn er dies wünscht, begleitet sie ihn bis zum Sterben.

Ich möchte von einem Bewohner und seinem letzten Lebensjahr berichten.

Komm wieder

Herr Strothmann zog im Alter von 50 Jahren in ein Haus der Archegemeinschaft in Tecklenburg, nachdem er seit seinem elften Lebensjahr vier verschiedene Einrichtungen durchlaufen hatte. Seine besondere Fähigkeit bestand darin, anderen Menschen Zeit zu schenken, Freunde herzlich willkommen zu heißen und zu erfassen, wer etwas zu sagen hat. Er sprach eher selten, verständigte sich durch Gesten oder mit Ein- und Zwei-Wort-Sätzen. Seine Lieblingsworte in den Jahren der Gesundheit waren: „Nein“, „Hau ab“ und Pfeife“, besondere Menschen bekamen zum Abschied auch ein „Komm wieder!“.

Die ersten Anzeichen seiner Demenz waren aufgrund seiner ausgeprägten geistigen Behinderung schwer als solche einzuordnen. Unübersehbar wurde es jedoch, als er – ein jahrelanger starker Raucher – sich Brandblasen an den Händen zuzog und die Tätigkeit des Pfeife-Anzündens nicht mehr koordinieren konnte. Im selben Zeitraum wurde er sehr unruhig und stampfte anhaltend mit dem Fuß auf den Boden, dass es auch in den angrenzenden Stockwerken zu hören war und die anderen Bewohner sich gestört fühlten. Das Team der Assistenten war oft ratlos und überfordert.

In den Zeiten der Unruhe brauchte Herr Strothmann Einzelbegleitung, die Teilnahme am Gruppengeschehen überforderte seine Möglichkeiten, auch begann er seine Mahlzeiten gemeinsam mit einem Assistenten in der Küche einzunehmen. Die Assistenten zeigten höchste Einsatzbereitschaft und festen Willen, die schwierige Zeit gemeinsam durchzustehen. Allerdings verschärfte sich die Situation in den folgenden Monaten noch dadurch, dass Herr Strothmann anfing, anhaltend laute Schreie von sich zu geben. Angstzustände und Zittern begleiteten diese Zeiten. Durch eine Schiefhaltung war er extrem sturzgefährdet, und es musste immer jemand in seiner unmittelbaren Nähe bleiben.
Für die Assistenten war es notwendig, sich engmaschig über ihre Erlebnisse und Beobachtungen auszusprechen. Auch die behinderten Gemeinschaftsmitglieder sprachen täglich über Willi, kümmerten sich um ihn und versuchten ihn aufzuheitern.

Nach Hause

Im September kam es wiederum zu einem deutlichen Abbauprozess mit zunehmender Schwäche. Herr Strothmann zeigte verstärkt das Bedürfnis nach Nähe und hielt häufig die Hand seines Begleiters fest. Es begann noch einmal eine intensive gemeinsame Zeit, die aber längst nicht mehr so dramatisch und stresshaft war, da das Schreien langsam völlig verebbte.
Kurz vor Weihnachten, zweieinhalb Wochen vor seinem Tod, führte eine Kreislaufschwäche mit Ohnmacht zu einem sechstägigen Krankenhausaufenthalt. In dieser Zeit bekam er mindesten zweimal täglich Besuch aus der Arche oder aus seinem Freundeskreis. Häufig sagte er mit hoffnungsvollem Blick „Nach Hause“, wurde aber nie ärgerlich oder fordernd.

Muss Willi sterben?

Im Erdgeschoss der Arche wurde ein Zimmer für Herrn Strothmann eingerichtet, das in unmittelbarer Nähe zu den gemeinschaftlichen Räumen lag. Als er mit dem Krankentransport zurück in die Arche kam, strahlte er und sagte „Wieder da!“ – es war uns klar, dass er zum Sterben nach Hause kam. Die Tür zu seinem Zimmer blieb offen. Jeder, der wollte, konnte zu ihm hineingehen. Fragen wie „Muss Willi sterben“, oder „Geht Willi tot?“ wurden gestellt. Es entstanden Gespräche über das Leben und Sterben, zum Teil in Herrn Strohmanns Gegenwart.
Am 11. Januar, nachdem in der Arche Eucharistische Anbetung gehalten wurde und die Türe zu seinem Zimmer weit offen stand, starb Herr Strothmann ruhig und undramatisch.
Was unmittelbar nach dem Sterben geschehen sollte, war nicht geplant worden, ergab sich aber wie von selbst, folgerichtig aus der davor zuvor gemeinsam gelebten Zeit. Wer nicht schon im Bett lag, machte sich noch einmal auf dem Weg zu Willi, Assistenten wie Bewohner. Im Zimmer brannte eine Kerze, und jemand hatte eine getöpferte Darstellung vom Guten Hirten aufgestellt. Alles strahlte einen ungewohnten Frieden aus, kaum jemand weinte. Es war eine feierliche und friedliche Stimmung, eines von seinen Lieblingsliedern wurde gesungen.
Auch am nächsten Tag blieb die Tür zum Zimmer von Herrn Strothmann offen. Menschen kamen und gingen, verweilten kürzer oder länger bei ihm und kamen anschließend in den Wintergarten, um Erinnerungen über Herrn ihn auszutauschen.
Bei der Beerdigung wurde der Sarg von Assistenten und Freunden der Arche getragen, auch ein Bewohner fasste mit an. Im Gottesdienst wurden Erlebnisse mit Willi Strothmann erzählt, das Leben mit seinen Licht- und Schattenseiten wurde angesprochen.
Das Foto von ihm im Gemeinschaftsraum blieb noch ein paar Wochen und wurde dann im Wintergarten aufgehängt. Jedes Jahr pünktlich zu seinem Geburtstag stehen frische Blumen auf seinem Grab, dafür sorgt eine Bewohnerin aus der Arche, der dieses Andenken sehr wichtig ist.

Der natürliche Umgang mit dem Sterben und das Bemühen, den Sterbenden bis zum Ende zu Hause zu umsorgen, soweit dies möglich ist, wird in allen Arche-Gemeinschaften weltweit angestrebt. Nicht immer ist es machbar. Was jedoch immer gewährleistet werden kann, ist die Offenheit und Bereitschaft, darüber zu sprechen, und somit den Menschen mit einer geistigen Behinderung eine Auseinandersetzung mit Tod und Sterben zu ermöglichen. Wir machen die Erfahrung, dass der natürliche Umgang mit dem Tod die Angst davor zu nehmen scheint.

 

Astrid Froeb ist Koordinatorin der deutschsprachigen Arche-Gemeinschaften.

 

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