Organisation

Referat für Menschen mit Behinderungen

Das Geschenk der Freundschaft

Lisa ist 19 Jahre alt, von Geburt an gelähmt, kann nicht reden. Ihre Mutter erzählt, was Freundschaft für sie bedeutet.

Lisa hat eigentlich eine „normale“ Kindheit gehabt: Sie konnte im Ort in den Kindergarten gehen, dann in die Schule. Das war eine glückliche Zeit, für die wir sehr dankbar sind. Durch den gemeinsamen Lebensraum „Dorf“, in dem sich diese Zeit abgespielt hat, hat Lisa immer Freunde gehabt. Andere Kinder haben sie besucht, und sie war zu so manchem Geburtstag ihrer Klassenkameraden eingeladen. Immer war ich als Mama auch dabei, um sie zu unterstützen und, wenn es notwendig war, auch zu „übersetzen“. Sie hat dazugehört: zur Dorfgemeinschaft, zur Schule.

Immer wieder gab es Menschen, die Lisas Leben bereicherten. Eine Studentin schenkte Lisa einmal in der Woche einen Nachmittag. Sie ergänzte mit ihren Muskeln Lisas fehlende Motorik und hatte genügend Sensibilität, sie ohne Sprache zu verstehen. Zeitgleich wurden im Ort von einer Sportlehrerin nachmittags Gymnastikstunden angeboten. Wir haben Lisa angemeldet, und die Studentin hat sie begleitet. Die Lehrerin hat Lisa voll eingebunden, hat sie wirklich wie alle anderen behandelt, hat keine Ausnahme gemacht: Auch als es hieß: Wer jetzt nicht aufmerksam ist, muss eine Strafrunde laufen ... und Lisa war nicht aufmerksam. Ausgerechnet an diesem Tag habe ich selbst Lisa begleitet. Jetzt durfte ich mit ihr auf dem Arm eine Strafrunde laufen. Zur großen Freude von Lisa, die richtig dankbar dafür war, wie alle anderen zu sein.

Früher haben ihr die gleichen Dinge Freude gemacht wie den anderen Kindern auch: Eis essen, Schokobananen geschenkt bekommen, Pumuckl schauen. Das war eine einfache Zeit. Es hat genügt, ein wenig zu vermitteln. Heute ist das anders: Was die anderen glücklich macht – iPad, PC-Spiele, einen Freund oder eine Freundin haben – kann Lisa nicht mit ihnen teilen. Da hilft kein Vermitteln mehr.

Beziehungen sind nach wie vor ihre größte Freude. So wie in der Sommer-Arche heuer im August: Da ist sie richtig aufgeblüht. Da haben Menschen mit ihr Zeit verbracht. Menschen außerhalb ihrer Familie. Das war ein großes Geschenk für sie. Und wenn sie nur mit den Jugendlichen beisammen war, um gemeinsam „abzuhängen“, zu blödeln, Musik zu hören.

In der Krise

Als Lisa 15 Jahre alt war, haben wir gemeinsam eine große Krise erlebt. Durch ihr rasches Wachstum haben sich ihre körperlichen Einschränkungen verstärkt. Das war für sie und mich schwer zu akzeptieren. Ich hatte das Gefühl, versagt zu haben, weil es trotz aller Bemühungen Rückschritte gab. Und meine pubertierende Tochter hat gezeigt, dass ihr die Welt so nicht mehr gefällt. Sie hat sich eingeschlossen und niemanden mehr an sich herangelassen. Bis zu ihrem 15. Lebensjahr war sie ein Kind voller Lebensfreude. An vielen Dingen hatte sie großen Spaß und konnte dies auch zeigen. Dann kam es anders: Monatelang war Lisa sehr passiv. Von heut auf morgen ist es mir nicht mehr gelungen, Vermittlerin zu sein; sie ist auf nichts mehr eingestiegen. Habe ich gesagt: „Wir gehen schwimmen!“, so hat sie keine Freude darüber gezeigt. Sie hat es mit sich geschehen lassen – so, als wäre sie ein Stück Holz. Kein Lachen, kein Protest, keine Emotionen, auch keinerlei Forderungen an uns. Sie hat zwar unbeteiligt, aber Gott sei gedankt, doch Nahrung zu sich genommen. Sie war völlig passiv, wenn wir sie zu Bett gebracht haben. Am Morgen haben wir sie in der selben Stellung wieder gefunden.
Monatelang haben wir alles mögliche versucht. Ich war am Ende meiner Kräfte.

Dann besuchte uns unser ehemaliges Au-Pair-Mädchen Susi, die die schwierige Situation schnell erkannte. Vor Jahren machte Lisa mit Susi ihre ersten Aktivitäten ohne Mama. Susi teilte auch diesmal viel Zeit und viele Gespräche mit Lisa. Susi legte sich einfach neben Lisa ins Bett und zeigte ihr: „Ja, du hast recht, ich verstehe dich, und ich bleibe bei dir.“

Bei diesem Besuch wollte Susi mit einem neuen Waffeleisen für die ganze Familie Waffeln backen. Doch während sie oben Teig eingoss, sah ich unten den Teig herausrinnen: über meinen Kasten, in die Schubladen, auf den Boden. Ich war vor Entsetzen starr. Lisa beobachtete das Ganze, erkannte die Komik der Situation und schüttelte sich vor Lachen. Das Eis war gebrochen! Ab diesem Ereignis ging es wieder aufwärts. Susi gab mir zu verstehen, dass ein 16-jähriges einen Spiegel in ihrem Zimmer braucht, ein Haargel und andere Schminksachen liebt und das Lisa da keine Ausnahme ist. Nicht im Entferntesten habe ich daran gedacht! Sollte ich jetzt bei der aufwändigen Pflege noch Gel aus den Haaren waschen? Für manche Sachen braucht man eben ein Au-Pair-Mädchen, das manches auch aufgrund des geringeren Altersunterschiedes besser versteht!

Lisa ist aus der Krise als Erwachsene herausgetreten: weniger herausfordernd, mit veränderten Interessen; wählerisch. Jetzt muss es schon eine „Sommer-Arche“ sein, damit sie aufblüht. Ich meine damit: Menschen, die ihr Zeit schenken und die ihre Freunde werden, so wie alle Jugendlichen Freunde haben.

Jahrelang haben wir alles getan, um so wenig Behinderung und so viel Normalität wie möglich zu leben. Jetzt haben wir gelernt, dass nicht alles geht. Ich muss akzeptieren, dass ich ihr die Einsamkeit, die eine Behinderung mit sich bringt, nicht abnehmen kann. Aber ich begleite sie, bin mit ihr traurig und versuche sie zu verstehen. Wertvoll waren mir in diesem Lernprozess Menschen, die mich emotional entlastet haben. Die bräuchte auch Lisa! Jemand, der sie irgendwohin mitnimmt!

Neue Möglichkeiten finden

Ich bin sehr dankbar für all die Menschen, die sich durch die Behinderung von Lisa nicht behindern ließen, sie als Person kennen zu lernen und ihr so wertvolle Zeit schenkten: meine Schwester, Oma, Opa, Cousinen, Kindergärtnerinnen, Lehrer, Au-Pairs, Klassenkameraden und deren Eltern, Mitarbeiter von MOKI Kärnten und viele mehr. Dabei ist es nicht wichtig, ob jemand ein Taschengeld oder eine Entlohnung für diese Zeit bekommt; wichtig ist, wie viel Herz dahinter steht. Menschen, die Zeit schenken, haben Lisa gezeigt, wer und was sie selbst ist: ein liebenswürdiger Mensch.

Sie spürt sehr schnell, welches Interesse derjenige hat, der da kommt. Wer kommt und sich Lisa öffnet, der wird – so wie Lisa von ihm – bereichert, beschenkt.

Als Kinder haben sich die Mädchen dafür interessiert, wer welche Haarspangen hat. Lisa hat gerne mit den anderen getauscht: Wir haben ihr den Tausch vorgeschlagen, sie hat Zustimmung oder Ablehnung bekundet. Das geht heute nicht mehr, heute ist die Interessenslage eine andere. Damals hat Lisa durch ihre Freunde erfahren: Ich bin wichtig! Aber wer läutet heute für sie an der Tür? Die Sommer-Arche war für sie wie ein Leuchtturm: Sie hat sich selbst entschieden teil zu nehmen. Und das Projekt war für sie sehr erfolgreich. Es war auch für mich eine Bestätigung und Ermutigung: Es ist uns trotz all dem gelungen, ein gewisses Grundvertrauen wiederzugewinnen, und Lisa ist fähig dazu, es fruchtbringend einzusetzen.

Welche Möglichkeiten aber bleiben ihr in Zukunft? Wo sind Menschen außerhalb unserer Familie, mit denen sie einfach froh sein und Freude haben kann? Ihr kleiner Bruder Gabriel – er ist jetzt 5 – sagt das mit seinen Worten: „Mama schaut so lange auf Lisa, bis sie heiraten wird!“

Maria Keutschegger