Bolivien

Die Angst vor Hunger ist größer als die Angst vor Corona

Lebensmittelpakete sichern das Überleben vieler Familien im Guaraní-Volk (Bildrechte Funsción Pueblo)
Lebensmittelpakete sichern das Überleben vieler Familien des Guaraní-Volkes (Bildrechte: Fundación Pueblo)

Viele unserer Projektpartner haben sich in den letzten Tagen und Wochen bei uns gemeldet und von der Situation vor Ort berichtet. Besonders zu Herzen gegangen ist uns ein langer Bericht unseres bolivianischen Projektpartners den wir hier auszugsweise veröffentlichen.

"Bolivien steht erst am Anfang der Auswirkungen der Pandemie und ist eines der Länder weltweit, das am schlechtesten auf deren gesundheitliche, wirtschaftliche und soziale Konsequenzen vorbereitet ist. Wie viele der 11 Millionen Bolivianer das Virus tatsächlich mit sich herumtragen, ist höchst unklar. Zum einen werden nur verschwindend wenige Tests durchgeführt – bis Mitte April weniger als 4.000 im ganzen Land. Es gäbe keine Reagenzien für die Tests, sagt der Gesundheitsminister, und nur drei Labore können in dem dreimal so flächengroßen Land wie Deutschland überhaupt Proben analysieren. Hinzu kommen die teilweise haarsträubenden Berichte von total verspäteter und schlechter Behandlung, die „offizielle“ COVID19-Patienten in den mangelhaft gerüsteten Gesundheitszentren erfahren, und deren soziale Ausgrenzung in ihren Nachbarschaften", so Günther Schulz-Heiss von der Fundación Pueblo.

Das sind starke Anreize, sich erst gar nicht auf den Virus untersuchen zu lassen und einen Todesfall in der Nachbarschaft auf andere Gründe zurückzuführen.

Weiter berichtet er, dass die Reaktionen der Regierung auf die ersten Fälle in einem Maß erfolgten, das die Beschränkungen in den meisten Ländern der Welt in den Schatten stellt. Allen Bürgern wird das Verlassen des Hauses bis auf einen einzigen Vormittag in der Woche untersagt, Unter 18jährige und über 65jährigen müssen gänzlich zu Hause bleiben. Der öffentliche und private Nahverkehr wurde bis auf individuelle Ausnahmegenehmigungen für Nahrungsmittel- und Gesundheitstransporte gänzlich unterbunden. Verstöße werden dort, wo die Polizei präsent ist, mit drakonischen Geld- und Freiheitsstrafen hundertfach geahndet.

Diese Ausgangs- und Verkehrbeschränkungen in Bolivien haben die Wirtschaft weitestgehend zum Erliegen gebracht. In einem Land, in dem zwei Drittel der Bevölkerung ihr Einkommen im „informellen Sektor“ d.h. ohne eine Anstellung mit festem Gehalt zu erwirtschaften bemüht ist, sind die sozialen Auswirkungen fatal. Die Baustellen, auf denen tausende „freie“ Handwerker und Hilfsarbeiter ihren Tagelohn verdienten, liegen brach. Die Straßenhändlerinnen die ihre Familie mit dem Verkauf von Kleinigkeiten durchzubringen versuchen, sind nun alle arbeitslos. Ein Netz sozialer Sicherheit, das einen derartigen Namen verdienen würde, gibt es in Bolivien über den Familienverbund hinaus nicht.

Zu den wirtschaftlichen Nöten der Bevölkerung kommen die psychosozialen. Die Angst vor der Infektion geht in allen Bevölkerungsschichten um. Das Zusammenwohnen auf engstem Raum ohne die Möglichkeit, bei Bedarf zumindest einmal auf die Strasse entfliehen zu können, verstärkt die in den letzten Jahren alarmierend gestiegene Tendenz häuslicher Gewalt - vor allem in den Vorstädten der Armen.

Ob das Land diese Maßnahmen wirtschaftlich, sozial und politisch verkraften kann?

Fundación Pueblo, unser Projektpartner vor Ort, ist von der Situation des Landes voll betroffen. Besuche selbst nahe gelegener Projektstandorte sind – bis auf seltene Ausnahme(genehmigunge)n – unmöglich. Das einmal wöchentlich vormittags gestattete Verlassen des Hauses müssen die Mitarbeiter zum Besorgen des notwendigsten an Lebensmitteln und Medikamenten nutzen. Da bleibt selbst für die dringendsten Projektbesorgungen kaum noch Zeit. Das Projekt „Schülerpension in Gastfamilien“ liegt seit der zwangsweisen Schließung aller Schulen am 12.März zunächst einmal brach.

Wie können wir trotz aller Beschränkunken derzeit etwas tun, um die Auswirkungen der Epidemie und der staatlichen Maßnahmen zu deren Verlangsamung zumindest in gewisser Weise abzufedern?

Diese Frage beschäftigte das Team der Funación Pueblo: "Wie die meisten indigenen Völker in Bolivien sind die Guaraní besonders von den Auswirkungen der Isolation betroffen. Nach dem Ende der Fischfangsaison ist die Gemeinde, deren Schülerpension wir seit letztem Jahr unterstützen, weitgehend auf externe Lebensmittelversorgung angewiesen, die durch die drastischen Beschränkungen des Verkehrs jetzt extrem eingeengt wurde. Nach zahlreichen zunächst erfolglosen Versuchen konnte David, unser „Mann in Tarija“, nun eine Ausnahmegenehmigung erreichen, um die abgelegene Gemeinde Tentaguazu im Chaco-Tiefland zu besuchen und mit Lebensmitteln zu versorgen. Die Verteilung der Lebensmittelpakete an die Familien wurde mit den traditionellen Gemeindevorstehern geplant und organisiert und von der Kreisverwaltung von Entre Ríos begleitet und kontrolliert um sicher zu gehen, dass alle Vorsichtsmaßnahmen eingehalten werden."