Organisation

Referat für Stadtpastoral

Von der Entstehung und Verbreitung des Liedes „Stille Nacht“

Ein Weihnachts-Essay von Engelbert Obernosterer

Stille-Nacht-Kapeller-Oberndorf (Foto: SalzburgerLand Tourismus)
Stille-Nacht-Kapelle-Oberndorf (Foto: SalzburgerLand Tourismus)

Die menschliche Sehnsucht und Ausschau nach Gott begegnet im Weihnachtsgeschehen der Sehnsucht Gottes nach dem Menschen. Vor 200 Jahren wurde diese tiefe Erfahrung im weltbekannten Lied „Stille Nacht“ in ein ergreifendes Wort-Musik-Kunstwerk gesetzt.

Engelbert Obernosterer (Foto: Dompfarre Klagenfurt)
Engelbert Obernosterer (Foto: Dompfarre Klagenfurt)

„Der Kärntner Autor Engelbert Obernosterer, der in seiner Kindheit das karge und harte Leben selbst erfahren hat, konnte mit seinem Text die Lebensumstände und die Stimmung der Menschen vor 200 Jahren ebenso gut ins Wort bringen, wie den Zauber der Verwandlung, der sich bei jenen Menschen ereignet, die diese weihnachtlichen Klänge bis in ihr Herz vorlassen“, schreibt Dompfarrer Peter Allmaier in einem Vorwort zur Broschüre mit dem Text, der hier - mit freundlicher Genehmigung des Autors - veröffentlicht wird.

Zweihundert Jahre nach dem Entstehen des weltbekannten Liedes „Stille Nacht“ versucht nun einer, der ähnlich elementaren Verhältnissen entstammt wie die Schöpfer des weltbekannten Weihnachtsliedes, dem Geheimnis der Entstehung und Wirkung nahe zu kommen.

Engelbert Obernosterer

Von der Entstehung und Verbreitung des Liedes „ Stille Nacht“

(Gewidmet meiner Frau Margareth Maria)

Motto:
Schläft ein Lied in allen Dingen,
die da träumen fort und fort,
und die Welt fängt an zu singen,
triffst du nur das Zauberwort.
(Joseph von Eichendorff)

Wir befinden uns in der Salzburgischen Kleinortschaft Mariapfarr im Lungau im Jahre 1816. Einer der trüben Wintertage geht in die Dämmerung über.

Der junge Hilfspfarrer Josef Mohr steht am Fenster seiner kärglich eingerichteten Kammer, bestehend aus Schreibtisch, Kleiderschrank, im Winkel das Bett, darüber ein Kruzifixus, irgendwo eine Gitarre, nicht viel mehr. Zwischen den mit Moos ausgepolsterten Tramen sickert es kalt herein.
Draußen in der Dämmerung lösen sich die Umrisse von Kirchturm und dem Sammelsurium bäuerlicher und gewerblichen Nutzbauten in ein alles gleichmachendes Grau auf. Was untertags wichtig gewesen war, ist es nun nicht mehr. Nicht länger zeigen es die breitbrüstigen Häuser der Dorfgroßen den Keuschlern und Tagelöhnern, wer hier das Sagen hat, die Zäune und Randsteine sind des Abgrenzens müde geworden, das Rauschen des Dorfbaches ist nicht mehr auseinander zu halten vom Rauschen, das der Wind in den Wipfeln des nahen Waldes erzeugt.

Längst sind die Äcker jenseits der Salzach abgeerntet, bald wird die zermarterte Erde von einem friedlichen Weiß zugedeckt sein. Nichts erinnert mehr an die Plackereien der Erntezeit; nur ein alter wohlgenährter Rabe rackert sich mit schwerem Flügelschlag von einem Stoppelfeld in die Höhe, hin gegen den Fichtenwald, dessen großes ruhiges Schwarz das kleine unruhige in sich aufnimmt.
Da und dort sickert Rauch aus einem der Schornsteine, so auch drüben im Pfarrhof, wo sein ihm vorgesetzter Pfarrer mit dem Rücken am Kachelofen sich ins Brevier vertieft haben dürfte. Gut, dass er sich in die Psalmen und Verheißungen der heiligen Schriften retten kann nach einem Tag voll Unverständnis und Ignoranz, wie man sie ihm von allen Seiten entgegen bringt. Hier fallen seine Wortsamen auf felsigen Boden. Wie ein Hund die Feuchtigkeit von seinem Fell schüttelt, schütteln seine Taufscheinchristen alle Ratschläge und Ermahnungen von sich. Worte bewirken hier nichts, von Worten kann man nichts herunter beißen, sagen sie. Was über die Bedürfnisse des Leibes hinaus noch möglich wäre, haben sie beizeiten als unnütz abgetan.

Nur zu den Heiligen Zeiten legen sie ihre nach Mist und Schweiß riechenden Klamotten ab und begeben sich in sauberen, sie aus dem Alltag entrückenden Gewändern in die Kirche. wo sie verstummen und sich dem Orgelbrausen und den Worten des Seelsorgers aussetzen. Merkwürdig verändert verlassen sie das Gotteshaus. Draußen setzen die Männer wieder die Hüte auf und sind bald wieder die alten. Nur einige ältere Frauen zögern noch eine Weile, die Kirche zu verlassen.

Bei der werktäglichen Messfeier knien dann nur noch ein halbes Dutzend arbeitsunfähig gewordener Altfrauen in den Bänken. Selbst als Priester könnte man unter diesen Umständen den Glauben verlieren. Kein Wunder, dass der in die Jahre gekommener Pfarrer sich zermürbt in sein Widum zurück gezogen hat, wo er sich mit einem guten Tropfen über manches hinweg tröstet.

Er aber, Josef Mohr, spürt noch frische Kraft in sich. Obwohl als untergeordneter Hilfspfarrer häufig missverstanden und gedemütigt, bleibt seine Vision von einer Welt der Nächstenliebe und des Einsseins mit aller Kreatur ungebrochen. Weil er sich mit seinen Schäflein auf die gleiche Stufe stellen möchte, ist er aus dem Pfarrhof hierher in die windige Dachkammer gezogen. Hier verbindet sich sein Frösteln mit dem ihren, ihre Sorgen spürt er als die seinen, den verhängnisvollen Grenzstrich zwischen mein und dein: Er will ihn gründlich ausradieren. So wird er Teil des Geflechtes, auf das alles Wachsen und Wirken zurück geht. Und er darf hinab steigen zu dem dunklen Ort, zu dem der Sage nach einst Orpheus mit der Leier hinab gestiegen ist, um Worte zu schöpfen, die Steine zum Singen bringen, Weisen, die nicht von dieser Welt sind, aber in allen Menschen etwas erwecken und zum Klingen bringen, was sie bereits für immer verloren geglaubt haben.
In dieses Einsgefühl eingetaucht, setzt er sich an den Schreibtisch, seine Hand überlässt er dem, was ihn ergriffen hat.
Mitternacht dürfte vorüber gewesen sein, als Franz Mohr wieder zu sich kommt und die Feder ins Tintenglas zurück steckt. Am Morgen liegen sechs Liedstrophen auf dem Tisch. Die erste beginnt mit: Stille Nacht, heilige Nacht ...

Zwei Jahre später im Schulhaus von Arndorf bei Salzburg. Der dortige Lehrer Franz Xaver Gruber geht zu später Stunde in seinem Dachzimmer auf und ab. Die ihm anvertrauten Kinder - an die fünfzig sind in einer einzigen Schulstube zusammengepfercht: sie sind ihm ans Herz gewachsen. Großteils aus verfahrenen Familienverhältnissen stammend, sind sie erwartungsvoll zu ihm in die Schule gekommen. Die meisten hatten nie eine Kindheit; aus dem Mutterschoß wurden sie mitten in die traurige Dorfrealitäten hinaus gestoßen, hinaus in dunkle feuchte Zimmer zu den hilflosen Müttern und den abgekämpften Vätern. Kann er als ihr Lehrer etwas an der Unbarmherzigkeit der Verhältnisse ändern? Kaum. Allenfalls für den Lebenskampf rüsten kann er sie.

Über seine Aufgaben als Dorfschullehrer hinaus hat er auch für die musikalische Gestaltung der anfallenden Feste zu sorgen. Soeben steht wieder Weihnachten bevor, ein Fest, das besonders seine Kinder herbei sehnen. Auch er spürt, wie er ein anderer wird, während er dem Zauber dieses Lichtfestes musikalischen Ausdruck verleiht. Aber die Orgel, die Orgel! Ein Gräuel, wie sie quietscht! Soviel ist klar: Dieses Jahr muss er als musikalischer Gestalter der Mette ohne die Pracht dieses Instruments auskommen. Trotzdem will er das Fest auch diesmal so feierlich gestalten, wie die Leute es nun einmal von ihrem Organisten erwarten, ja, er fühlt sich verpflichtet, diesen durch und durch gutmütigen, zu Arbeitsmenschen geschrumpften Existenzen zurückgeben, was ihnen die Umstände genommen haben; seine musikalischen Überhöhungen sollen die Kinder, die sie im Grunde geblieben sind, aus dem Schutt der Alltäglichkeiten befreien.

Denn er sieht: Es ist das Kind in jedem von ihnen, das in den langen Dezembernächten noch einmal seine Händchen aus der Verschüttung streckt. Selbst die trübäugigen Greise schauen mit Kinderaugen auf zu den verheißungsvoll flackernden, von einem größeren Licht kündenden Lichtern des Altares und spüren, dass sich in ihren Existenzen vielerlei regt und zur Sprache kommen möchte. Aber wo ist diese Sprache, wer bietet ihnen die Worte, mit Hilfe derer sie sich befreien können? Zu viel taubes, verschmutztes Wortgeröll hat man ihnen tagtäglich über die Köpfe geschüttet, ihnen, die nach Worten des Lebens hungern.

Eine erfreuliche Ausnahme ist der neue Hilfspfarrer Josef Mohr, ein schweigsamer, ernster Priester, einer, der mit der Schöpfung auf so unschuldige Weise verbunden ist, dass sie ihm Worte des Lebens verleiht. Hier liegen sie: sechs wundersame Strophen, entsprungen einer Kinderseele, in ihrem Geist ein Niederknien und Staunen.

Und schau: Die Worte wollen nicht auf dem Papier kleben bleiben. Engel steigen aus ihnen auf; indem sie jubelnd vom Kind im Stall zu Bethlehem berichten, berichten sie vom Kind im Manne, dem Kind in der Frau, dem Kind, das nie Kind sein konnte, von einer Welt jenseits des Unzulänglichen künden sie, von der möglichen Erlösung aus Bedrückung und Enge.

Stille Nacht - Autograph (Foto: SalzburgerLand Tourismus)
Stille Nacht - Autograph (Foto: SalzburgerLand Tourismus)

Franz Xaver Gruber zieht es zur Feder, wie von einer unsichtbaren Hand geführt, huscht sie über das Notenpapier. Das ist nicht mehr der alte Pauker und Kinderdompteur Gruber, das ist ein Fluss, der außerhalb des Sichtbaren dahin rauscht und ihn von den vorliegenden Versen aus mitreißt. Er als Komponist braucht nur dem, was in den Versen enthalten ist, seine Hand zu leihen.

Christmette 1818 in der Kirche zu Oberndorf bei Salzburg. In den Kirchenbänken dicht aneinander gereiht, verharrt in dumpfer Ergebenheit das Kirchenvolk: vorn auf dürren Knien die Buben mit den kahlgeschorenen Schädeln, in den Gedanken noch bei dem, was für sie unter dem Christbaum gelegen war,-- in den Bänken dahinter die ernsten, bereits in Werkstätten und Betrieben beschäftigten Burschen, dann die Männer mit ihren groben Arbeitshänden und von der Witterung gegerbten Gesichtern. Dumpf stieren sie vor sich hin.- Auf der anderen Seite des Mittelganges ganz vorne die lebensfrohen Farben und strahlenden Gesichter der Schulmädchen. Einzelne Plappermäuler können es nicht lassen, einander etwas zuzuflüstern oder gar zu kichern, was ihnen jedoch von einer der hinteren Bänke aus mit strengem Zischen ausgetrieben wird. In den Reihen der heiratsfähigen Mädchen dahinter entdeckt man zwischen einzelnen aufgeputzten Bürgertöchtern so manche, die ihre Zukunft schon in frühen Jahren vertan haben. Und selbst die eitlen Schönen: Ihre Bestimmung deutet sich bereits in den hinteren Reihen der Frauen an. Das Gesicht in ihre Wäscherinnen-Hände versenkt, kniet die Witwe des in der Salzach ertrunkenen Flößers; acht Kinder hat sie nun zu versorgen. An ihrer Seite die jüngste der sieben Töchter des Gerbers, von ihrer Mutter im Sinne einer vorteilhaften Partie an einen ältlichen Jagdaufseher verkuppelt.- Das hinterste, schon im Dunkel liegende Gestühl gehört den Altfrauen; ihre geschrumpften und vornüber gebeugte Leiber sind in weitem schwarzen Geröcke verborgen, nur die von Gicht verbogenen Finger ragen daraus hervor.
In ihr Schicksal ergeben knien sie alle an ihren Plätzen und warten, warten, wie das Volk bereits vor tausenden Jahren gewartet hat. Auf das andere, das erlösende Wort warten sie, hoffen wie die Generationen vor ihnen auf Erlösung aus Bedrückungen, Abhängigkeiten und Erniedrigungen. Vertrauensvoll lauschen sie den Verheißungen des Weihnachts-Evangeliums.

Und horch! Von der Empore herab erklingt, von einer Gitarre begleitet, eine zarte, noch nie vernommene Melodie. Über die kahlen Köpfe der Buben, die eitel aufgesteckten Zöpfe der Dorfschönen, die gebräunten Glatzen von Bauernknechten wie auch die Kopftücher der Altfrauen hin tönend erzählt sie vom Kindlichen und Unschuldigen, wie jeder es jetzt in sich spürt.

Die Zeit ist außer Kraft gesetzt, ein Lied lang weht der Hauch der Ewigkeit durch das hohe Kirchenschiff. In jedem rührt er etwas an, was außerhalb der Kirche nicht der Beachtung wert zu sein scheint. Manch Hartgesottenem wird plötzlich anders in seiner Krämerseele, manchen der Gleichgültigen berühren die Worte wie Zauberstäbe , den Frauen schlägt es die Hände vor die Augen, damit sie nichts mehr von dieser Welt sehen müssen; in Ehe und Dorfleben nicht anwendbare Gefühle durchströmen sie. Ungeachtet dessen, was sie außerhalb der Kirchenmauern sein müssen, hier sind sie Teil des Heiligen. Mögen die Rohheiten des Erwerbslebens sie auch erniedrigen und einengen, in Hinkunft sollen sie abprallen von dem, was das Lied in ihnen wachgerufen hat.

Des Josef Mohr und Franz Xaver Gruber hat das aus unergründlichen Tiefen aufsteigende Lied sich bedient, um vernehmbar zu werden. In seiner Ursprünglichkeit und dem Geist der Grenzenlosigkeit liegt es beschlossen, dass es Wege findet, auch an anderen Orten zu erklingen: in den Gotteshäusern der Umgebung zuerst und bald auch über alle Landesgrenzen hinaus bis an den Zarenhof und nach Übersee. Hautfarbe, Konfession und soziale Zugehörigkeit sind vergessen, wo immer die Melodie erklingt. Selbst die Eskimos stimmen sie an, wenn sie von starken Gefühlen ergriffen werden, etwa bei Beerdigungen.

Der Text ist inzwischen in 300 Sprachen übersetzt worden.

Seine Entstehung und Verbreitung, darauf sei ausdrücklich hingewiesen, kann nicht auf biographische, soziologische oder geographische Weise erklärt werden, etwa mit den Lebensumständen von Franz Mohr und Xaver Gruber und dem geschichtlichen Hintergrund der nachnapoleonischen Verhältnisse, man wird dem Geheimnis des Liedes auch nicht auf den Grund kommen, indem man zu den Stätten der Entstehung hin pilgert und Reste aus jener Zeit besichtigt.

Der Zauber dieser Melodie erklärt sich am ehesten daraus, dass mit ihr - auf welchem Flecken der Erde auch immer - das unentstellt Kindliche in einem Menschen angesprochen und fühlbar gemacht wird. Noch näher kommt man dem Geheimnis dieser seltsamen Berührung, indem man die Entstehung nicht zu erklären, also ins Klare und Verstandesmäßige zu bringen versucht, sondern als Teil des Weihnachtswunders erlebt.

Ende