Von der VER-EINNAHMUNG

Wie die ver-MEIN-tliche Vereinnahmung Gottes auch die Beziehung zu den Menschen, zur Natur, zu den Dingen vergiftet.

Rainer Maria RILKE [1875 – 1926] hat in seinem „Stundenbuch“ die ver-mein-tliche Vereinnahmung Gottes und ihre entfremdenden Auswirkungen für Menschen, Tiere, Pflanzen, Natur, Dinge in Form eines poetischen Gebetes erfahrungs- und realitätsnah zur Sprache gebracht.

Statt eine „Kultur der Anerkennung“ (i. S. v. Paul Ricoeur und Axel Honneth) zu wahren, führt die verMEINtliche Vereinnahmung Gottes zur Vereinnahmung der Menschen, und mit ihnen auch zur Störung und Zerstörung der Schöpfung insgesamt.

„Abgeschmackte Charlatane“ (vgl. die Worte Rilkes) und Hochstapler-innen wollen vereinnahmend, Andere einschüchternd und bevormundend das Wort und die Regie führen. Die von ihnen benutzten beliebtesten Werkzeuge  hat Marie-France HIRIGOYEN in ihrer immer noch aktuellen psychologischen Untersuchung über "Die Masken der Niedertracht" (franz. Originalausg. Paris, 1998; deutsche ungekürzte Ausgabe, München: dtv, 2002 ff.) mutig und unverhüllt beim Namen genannt.

Statt Anerkennung von Qualität, die Anderen und Anderem Raum gibt und lässt, wird ein Kampf um Quantität auf Kosten der Anderen geführt und inszeniert. „Man“ hat möglichst meinungs(-markt-)konform zu sein, sonst wird man verdrängt, ausgelöscht, medial, sozial, persönlich "ausgeschaltet". .

Dass diese Vereinnahmung in den modernen Medien, von Homepages bis hin zu virtuellen sozialen „Netzwerken“, sich ergeht und an Anderen vergeht, das hat Dietrich BONHOEFFER [1906 – 1945] schon in seiner „Rechenschaft an der Wende zum Jahr 1943“ erkannt und unter der Überschrift „Qualitätsgefühl“ mit den Worten beschrieben:

„Wenn wir nicht den Mut haben, wieder ein echtes Gefühl für menschliche Distanzen aufzurichten und darum persönlich zu kämpfen, dann kommen wir in einer Anarchie menschlicher Werte um. […] Kulturell bedeutet das Qualitätserlebnis die Rückkehr von Zeitung und Radio zum Buch, von Hast zur Muße und Stille, von der Zerstreuung zur Sammlung, von der Sensation zur Besinnung, vom Virtuosenideal zur Kunst, vom Snobismus zur Bescheidenheit, von der Maßlosigkeit zum Maß. Quantitäten machen einander den Raum streitig, Qualitäten ergänzen einander“ (Bonhoeffer, Dietrich: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Hrsgg. von Eberhard Bethge. Neuausgabe. München: Chr. Kaiser, 1970, S. 21 und S. 23)

 

Und dazu nun:

Rainer Maria Rilke

Das Stundenbuch. Zweites Buch: Das Buch der Pilgerschaft (1901), vorletztes Gedicht (= Nr.33):

 

 

Du musst nicht bangen, Gott. Sie sagen: mein
zu allen Dingen, die geduldig sind.
Sie sind wie Wind, der an die Zweige streift
und sagt: mein Baum.

 

Sie merken kaum,
wie alles glüht, was ihre Hand ergreift, –
so daß sie's auch an seinem letzten Saum
nicht halten könnten ohne zu verbrennen.

Sie sagen mein, wie manchmal einer gern
den Fürsten Freund nennt im Gespräch mit Bauern,
wenn dieser Fürst sehr groß ist und – sehr fern.
Sie sagen mein von ihren fremden Mauern
und kennen gar nicht ihres Hauses Herrn.
Sie sagen mein und nennen das Besitz,
wenn jedes Ding sich schließt, dem sie sich nahn,
so wie ein abgeschmackter Scharlatan
vielleicht die Sonne sein nennt und den Blitz.
So sagen sie: mein Leben, meine Frau,
mein Hund, mein Kind, und wissen doch genau,
dass alles: Leben, Frau und Hund und Kind
fremde Gebilde sind, daran sie blind
mit ihren ausgestreckten Händen stoßen.
Gewissheit freilich ist das nur den Großen,
die sich nach Augen sehnen. Denn die andern
wollens nicht hören, dass ihr armes Wandern
mit keinem Dinge rings zusammenhängt,
dass sie, von ihrer Habe fortgedrängt,
nicht anerkannt von ihrem Eigentume,
das Weib so wenig haben wie die Blume,
die eines fremden Leben ist für alle.

 

Falle nicht, Gott, aus deinem Gleichgewicht.
Auch der dich liebt und der dein Angesicht
erkennt im Dunkel, wenn er wie ein Licht
in deinem Atem schwankt, – besitzt dich nicht.
Und wenn dich einer in der Nacht erfasst,
so dass du kommen musst in sein Gebet:

                   Du bist der Gast,
               der wieder weiter geht.

 

Wer kann dich halten, Gott? Denn du bist dein,
von keines Eigentümers Hand gestört,
so wie der noch nicht ausgereifte Wein,
der immer süßer wird, sich selbst gehört.