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Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

Stille Nacht: Der Hintergrund zur Botschaft des Liedes

Dagmar Kleewein zu Dichter und Komponist des bekanntesten aller Weihnachtslieder, aus welcher Situation heraus das Lied entstanden ist und weshalb wir es heuer sehr bewusst singen sollten

Fotos: wikicommons/Holger Uwe Schmitt; Kinderzeitschrift Regenbogen
Die Stille-Nacht-Kapelle in Oberndorf

„Stille Nacht“: Sie haben für die Weihnachtsausgabe der Kinderzeitschrift Regenbogen dem Lied nachrecherchiert?
Kleewein: Wir wollten das Thema Weihnachten einmal von einer anderen Seite her angehen. Bei den Recherchen habe ich entdeckt, wie aktuell „Stille Nacht“ eigentlich ist und dass es in einer Zeit entstanden ist, die unserer nicht unähnlich ist.

Inwiefern?
Kleewein: Erlauben Sie mir vorher noch ein Wort zu den beiden Urhebern des Liedes, Joseph Mohr und Franz Xaver Gruber, die ich sehr interessant finde. Joseph Mohr, der Textdichter, ist das uneheliche Kind einer Salzburger Weberin, die in einer feuchten Gasse in Salzburg wohnte. Der Vater ist ein desertierter Soldat. Mohr hat am Salzburger Dom einen Mäzen gefunden, dort war er Sängerknabe und hat später gelegentlich die Orgel gespielt. Dieser Mäzen hat ihn auch zum Priesterberuf hin begleitet und ihm den Weg geebnet: Als uneheliches Kind brauchte er dazu eine eigene Erlaubnis aus Rom.

Wie ging sein Lebenslauf weiter?
Kleewein: Auch als Priester ist er der Unterschicht treu geblieben. Er war lange Hilfspfarrer, also Kaplan, und hat sich immer besonders um die Benachteiligten gekümmert: Mägde, Hilfsarbeiter, Arbeitslose. Auf seiner letzten Pfarrstelle hat er ein Altersheim für Knechte gebaut. Er hat darauf bestanden, dass von ihm nie ein Bild angefertigt wird.

Sie haben die feuchte Wohnung seiner Mutter erwähnt – hat das gesundheitliche Folgen gehabt?
Kleewein: Joseph Mohr war lungenkrank und ist deshalb auch relativ jung gestorben. Bei seinem Tod haben seine Rücklagen nicht für ein ordentliches Begräbnis gereicht; er hat sehr bescheiden gelebt und alles weitergegeben.

Welche Beziehung hatte er zu Franz Xaver Gruber?
Kleewein: Was ihn und den Komponisten von „Stille Nacht“ verbunden hat, war die Musik. Gruber kam aus einer Bauernfamilie als jüngstes von sechs Kindern. Auch sein Vater hat in Heimarbeit gewebt, um ein Zubrot zu verdienen. Beide verbindet auch, dass sie sich durch ihre Begabung aus ärmlichen Verhältnissen hochgearbeitet haben. Musik war für beide etwas, was ihnen Lebensfreude gab und Kraft für eine positive Lebensbewältigung.

Sie haben davon gesprochen, dass Sie in der damaligen Zeit Parallelen zu heute entdeckt haben?
Kleewein: Was man weiß: Das Lied wurde erstmals 1818 in Oberndorf gesungen. Das kleine Oberndorf war lange ein Vorort der Stadt Laufen, die auf der anderen Seite der Salzach liegt, aber 1816 nach den napoleonischen Kriegen Bayern zuerkannt wurde. Die jahrelangen Kriege haben in der Region große Verwüstungen hinterlassen. Die Trennung von Laufen bedeutete auch den Verlust der wirtschaftlichen Grundlage des kleinen Oberndorf und brachte eine große Arbeitslosigkeit, weil der Transport des in Hallein gewonnenen Salzes wegfiel, das bisher über die Salzach nach halb Europa verschifft worden war. Die Spannungen im damaligen Europa erinnern mich stark an die, die wir heute durch den Ukraine-Krieg haben. Damals wie heute leiden die Ärmsten am meisten darunter, die Joseph Mohr wiederum sehr am Herzen lagen. Zudem war ja sein Vater, wie schon erwähnt, ein desertierter Soldat.

Wie ist es in dieser Situation zu dem Lied gekommen?
Kleewein: Joseph Mohr hat den Text zu „Stille Nacht“ 1816 geschrieben, als er in Maria Pfarr Kaplan war, als Gedicht, ich würde eher sagen: als Gebet. Weil das Klima dort seiner Lunge nicht gutgetan hat, kam er 1818 nach Oberndorf, wo Franz Xaver Gruber, Lehrer im nahegelegenen Arnsdorf, Mesner und Organist war. Am Nachmittag des 24. Dezember ging Mohr zu Gruber und bat ihn um eine Melodie zu seinem Text. Die ursprüngliche Fassung hatte sechs Strophen, wir singen davon heute die beiden ersten und die sechste Strophe. Nach den Autographen, die man kennt – von Franz Xaver Gruber gibt es mehrere, eine von Joseph Mohr hat man erst vor wenigen Jahren gefunden –, wurde das Lied erstmals in einer Krippenfeier am Heiligen Abend 1818 gesungen. Bekannt wurde es durch eine Familie aus dem Zillertal, die das Lied bei ihren Reisen vorgetragen hat, bis an den Hof des deutschen Königs Friedrich Wilhelm IV. in Berlin.

Was daran hat Sie besonders berührt?
Kleewein: „Stille Nacht“ ist in einer sehr kargen Zeit, einer Krisenzeit, entstanden. Es ist in einem Sechs-Achtel-Takt geschrieben, einem Siciliano-Rhythmus, der speziell für Wiegenlieder verwendet wird. Ich sehe es als Wiegenlied für das Jesuskind, aber es wendet sich auch an mich. Es soll diese Geborgenheit vermitteln, bei Gott Ruhe zu finden und sich ausrasten zu können. Das sagt auch uns heute, dass wir bei Gott Ruhe finden können: Gott wiegt uns und singt uns dieses Wiegenlied.

Sie wollen sagen: Das Lied gibt Antwort auf eine Not, die über Ort und Zeit hinausgeht?
Kleewein: Man weiß ja auch, dass am Heiligen Abend 1914, im Ersten Weltkrieg, die Soldaten an der Front in Belgien ihre Waffen niederlegten, um gemeinsam „Stille Nacht“ zu singen und Weihnachtsbäume aufzustellen. – Die Nikolauskirche, in der die „Uraufführung“ war, steht heute nicht mehr. Sie war am Ufer der Salzach und wurde durch mehrere aufeinanderfolgende Hochwasser Ende des 19. Jahrhunderts zerstört. Auf dem Schutthügel hat man Anfang des 20. Jahrhunderts die „Stille-Nacht-Kapelle“ errichtet. Ich finde es schade, dass das Lied oft so kommerziell ausgeschlachtet wird, es hat eigentlich eine sehr tiefe und aktuelle Botschaft. Weiß man seinen Hintergrund, beginnt es ganz anders zu schwingen, man singt es ganz anders. Ich glaube, dass die Not, in der das Lied entstanden ist, immer mitschwingt, wenn man es singt. Sie ist darin sozusagen verpackt, und ebenso etwas von der Gnade, die Gottes Geist schenken kann.

Der Text ist sehr rumpfhaft, teilweise sind es ja nur einzelne Wörter, die die Umstände der Menschwerdung grob andeuten.
Kleewein: So ist es. Es wird eine arme Umgebung skizziert – ziemlich konträr zur Machtsituation der damaligen Salzburger Kirche. Die skizzenhafte Darstellung hilft, sich selbst hineinzufühlen, man kann das Bild selbst weiterzeichnen. Die Tradition der Krippendarstellung dagegen kommt von Franz von Assisi, der die Verbindung des Göttlichen mit der Ärmlichkeit des Menschen in einem kleinen Kind sichtbar machen wollte. Das ist auch die Inspiriation von „Stille Nacht“ und der Trost, den wir mitnehmen. Covid, die Energiekrise, der Krieg vor den Toren Europas ... Lemberg liegt näher bei Wien als Bregenz. Wir spüren wieder, was Not ist. Joseph Mohr hilft uns, mit dem Blick nicht bei dieser Not zu verharren, sondern lenkt den Blick auf die Erlösung: Der Himmel kann bei uns beginnen, jetzt. Es gibt solche heiligen
Momente.

Interview: Georg Haab

Zur Person: Dagmar Kleewein, geb. 1964 in Fohnsdorf/Steiermark und studierte Theologie in Graz. Nach ihrer Ausbildung absolvierte sie ein Pastoralpraktikum in Graz-Salvator und war anschließend in der Pfarre Leoben-Lerchenfeld zwei Jahre als Pastoralassistentin tätig. Seit 1993 arbeitet Kleewein als Redakteurin bei der Kinderzeitschrift Regenbogen.