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Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

Christ sein in der Welt von heute

Jozef Niewiadomski, Innsbrucker Dogmatiker, über Schuld und Vergebung und wie ein Neubegin aus dem Glauben heraus aussehen könnte

Foto: Universität Innsbruck/Christian Wucherer, und Bildungshaus Sodalitas/Foto Wallner
Bildunterschrift (Bildrechte sind zwingend anzugeben!)

Sie haben bei den Priestertagen in Tainach über „Priester in der Welt von heute“ referiert. Was sind Priester heute?
Niewiadomski: Priester sind „nicht von dieser Welt“: Diese biblische Sprache macht präsent, dass unsere Heimat im Himmel ist, wie es im Philipperbrief heißt. Das hat einen Autor dazu inspiriert, ein Buch zu schreiben mit dem Titel „Resident Aliens“, also sozusagen „Ausländer mit Bleiberecht“: Die Kirche ist wie eine Kolonie einer anderen Kultur.

Welcher Art ist diese andere Kultur?
Niewiadomski: Das Problem der heutigen Zeit, das uns alle quält, ist, dass man sich aufgrund des öffentlichen, kulturellen Gesprächs, des medialen Drucks und der medialen Rationalität inzwischen die Überzeugung zu eigen gemacht hat, die Religion unterscheide sich nicht von der Ethik: Die einen brauchen Gott, um brav zu sein, die anderen schaffen es ohne ihn. Da ist zwar ein Körnchen Wahrheit drin; die Frage ist aber, ob der eigentliche Wert der Religion nicht unter den Tisch fällt.

Worin besteht dieser in Ihren Augen?
Niewiadomski: Religion hat eine andere Antwort auf die Frage des Versagens, auf die Frage der Katastrophe der Ethik. Damit meine ich nicht nur das Scheitern eines Individuums, sondern dass ganze ethische Systeme scheitern: die klassischen nationalsozialistischen und kommunistischen Systeme, die sich zur Hölle entwickelt haben, aber auch – gegenwärtig sehr greifbar – der Neoliberalismus im kapitalistischen Gewand. Eine bestimmte Entwicklung wird auf Teufel komm raus betrieben. Damit wir es bewältigen, heißt es immer zuerst, das seien Entwicklungen zum Wohl der Menschen, nur die Guten steigen auf. Kaum sind sie aufgestiegen – ich vergleiche das mit der Logik des Parsifal –, werden sie gestürzt. Aufstieg und Fall regulieren das ethische Bewusstsein. Aber die Guten übersehen oft nur, dass sie selbstgerecht sind und im Dienst der Selbstgerechtigkeit die anderen stürzen lassen.

Wie lautet die religiöse Antwort auf diese Frage?
Niewiadomski: Weil wir alle Sünder sind, brauchen wir Vergebung. Der Neuanfang, echter Neuanfang, besteht in Vergebung. Wann bin ich dazu fähig? Wenn ich fähig bin, mit meinen Schwächen anders umzugehen, als die gängige liberale Kultur es mir beibringt. Sie bringt mir bei: Ich muss meine Schwächen überwinden, verschleiern oder auf andere abwälzen, um als gerecht dazustehen. Christliche Kultur dagegen ist, mich selbst anders wahrzunehmen, mir gegenüber barmherziger zu sein. Das hat nichts mit Selbsttäuschung zu tun.

Haben Sie dazu ein Beispiel?
Niewiadomski: Ich bin glücklich, auf meinem Lebensweg Menschen getroffen zu haben, die mir da weitergeholfen haben. Als Seminarist war ich auf dem besten Weg, Beichtneurotiker zu werden, ich rannte zur Beichte wie ein Wahnsinniger – ein Teufelskreis. Bei einer solchen Beichte bin ich einem Priester begegnet, der mein Problem erkannt und mir verboten hat zu beichten. Er wusste ganz genau, was das bewirkt: dass ich sofort nachher in Zweifel gerate, ob die Entscheidung richtig war. Dann hat er dazugesagt: Gehen Sie zur Kommunion, und wenn Sie dann ein schlechtes Gewissen bekommen, denken Sie daran: Ich nehme Ihre Sünden auf mein Gewissen. Mit diesen zwei Sätzen hat er das Meisterhafte vollbracht: Er hat mich damit konfrontiert, eine Entscheidung getroffen und mich vor dem Absturz aufgefangen, indem er sich selbst diakonal angeboten hat.

Was ist Ihre Schlussfolgerung für diese „christliche Kultur“?
Niewiadomski: In der Welt der modernen, liberalen Wirtschaft, wo die Kirche vollkommen abwesend ist, funktioniert die Gesellschaft nach anderen Gesetzen als denen der Liebe. Was ist nun die kreative kirchliche Antwort? Die Kirche ist nicht dazu da, dass wir ethische Formeln haben, wir haben genug ethische Sensibilität. Es ist gut, wenn die Kirche das unterstützt, aber ihre eigentliche Funktion ist, aus der Erfahrung der Vergebung zu leben. Das ist biblisch. Das ist auch katholisch, denn der Schwerpunkt des Katholizismus liegt nicht auf Ethik und Predigt, sondern auf den Sakramenten. Was ist ein Sakrament? Sakrament bedeutet Wandlung. Es wird etwas gewandelt, verändert. In unterschiedlichen Lebenssituationen wird das gewandelt, was an menschlichem Stroh da ist.

Aus der Erfahrung der Vergebung leben: Was bedeutet das?
Niewiadomski: Dieser Neuanfang, katholisch gesprochen, ist nicht als ethischer Impuls gedacht. Wenn es heißt: Das ist ein sakramentales Geschehen, dann wird mir zuerst etwas geschenkt. Wenn ich nie erfahren habe, dass mir etwas vergeben wurde, dass ich aufgefangen wurde, werde ich mir sehr schwer tun, es weiterzugeben. Der entscheidende Punkt liegt in der Erfahrung. – Was erfahren wir aber gerade im kirchlichen Kontext? Da gibt es viel Ballast, moralisierenden Ballast. Viele Menschen haben sich davon nicht befreit, sondern den eigenen Ballast, unter dem sie gelitten haben, auf andere abgewälzt, indem sie schuldig sprechen oder selber zu Moralisierern werden. In der ganzen Reform der letzten 40 Jahre nach dem Konzil ist es uns nicht wirklich gelungen, mit dem moralisierenden Ballast fertig zu werden. Um ihn aber zu bewältigen, muss man zuerst einmal mit sich selbst ins Reine kommen, indem man sich selbst anders begegnet und sich selbst auch vergibt. Damit macht man den Neuanfang.

Die Erwartungen an einen Neubeginn in unserer Diözese sind sehr hoch. Was wünschen Sie der Diözese und dem neuen Bischof für diesen Neubeginn?
Niewiadomski: Denjenigen, denen Kirche noch am Herzen liegt: dass sie sich die ganze Angelegenheit zu ihrer eigenen machen. Und zwar nicht dadurch, dass sie schimpfen, anklagen, denunzieren – ganz gleich wen –, sondern indem sie den eigenen Anteil an der unerlösten, zweifelhaften, sündigen Situation erkennen und damit ehrlich umgehen. Indem sie es sich selbst vergeben und damit fähig werden, es auch den anderen zu vergeben. Und: Auch ein Bischof ist ein schwacher Mensch, aber in der menschlichen Schwachheit kommt die göttliche Herrlichkeit zum Vorschein, nicht in der Stärke, nicht in der ethischen Perfektion. Das ist klassische Sakramententheologie: Wir tragen die Gnade in ehernen, in zerbrechlichen Gefäßen.

Das erinnert an Papst Franziskus, wenn er sagt: Es geht nicht darum, Räume zu besetzen, sondern Prozesse anzustoßen?
Niewiadomski: Ja. Meinen Impuls in Tainach habe ich beendet mit der alten Geschichte vom Flieger und vom Fänger, die auch ein Wunsch an den neuen Bischof ist. Im Zirkus, beim Salto Mortale am Trapez: Wer ist da der. eigentliche Held? Nicht der Flieger, sondern der Fänger, der ganz präzise im richtigen Augenblick fangen muss. Religiös gewendet: Der religiöse Mensch lebt aus dem Vertrauen, aufgefangen zu werden. Das hilft mir, dem Flieger, dass ich springen kann. Habe ich das Vertrauen nicht und setze nur auf meine eigene Technik und Perfektion, verpasse ich den entscheidenden Punkt.

Interview: Georg Haab

Zur Person: Józef Niewiadomski, geb. 1951, ist Professor für Dogmatik und Systematische Theologie und war bis zu seiner Emeritierung lange Jahre Dekan der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck. Bei den Priestertagen im Bildungshaus Sodalitas (Tainach) im Jänner referierte er zum Thema Kirche/Priester in der Welt von heute.