Organisation

Jahr der Barmherzigkeit 2015 - 2016

Barmherziger Umgang im Alltag

Ein Predigtimpuls zum Jahr der Barmherzigkeit von Bischofsvikar Pater Antonio Sagardoy OCD

Bischofsvikar Pater Antonio Sagardoy OCD (© Foto: Karl-Heinz Kronawetter / Internetredaktion)
Bischofsvikar Pater Antonio Sagardoy OCD (© Foto: Karl-Heinz Kronawetter / Internetredaktion)

Der letzte Satz aus dem heutigen Evangelium (18. Februar) sagt uns: "Was ihr von den anderen erwartet, das tut auch ihnen." Dieser Satz ist ein guter Einstieg zu den besinnlichen Gedanken, die ich mit euch teilen will.

* Das Gleichnis vom unbarmherzigen Knecht (Mt 18,22) zeigt uns einen konkreten Weg mit den Mitmenschen umzugehen. Es könnte uns unter Umständen vor Augen führen, dass unser Verhalten manchmal falsch ist.

Das Gleichnis macht uns auf ein mögliches Problem aufmerksam. Die anderen und ich, wir alle erfahren Vergebung durch Gott. Das Verhalten Gottes meiner Schuld gegenüber ist die Norm, um mit der Schuld meines Mitmenschen richtig umzugehen.

Wie Gott mir vergibt, soll ich meinen Mitmenschen vergeben. Es ist wichtig, an die Vergangenheit zu denken. Wer im eigenen Leben erfahren hat, wie oft ihm verziehen wurde, wie oft man mit ihm Geduld haben musste, wie oft er auf Großzügigkeit, auf Verzeihung angewiesen war, wird zweifellos daraus lernen können, das Versagen der Mitmenschen mit den richtigen Augen zu sehen.

Gegenseitige Vergebung

Die gegenseitige Vergebung hat aber großes Gewicht: "Denn der gute Jesus hätte ja auch andere Dinge vor dem Vater sagen können: Vergib uns, Herr, weil wir viel Buße tun oder weil wir viel beten und fasten, alles um deinetwillen verlassen haben und dich sehr lieben; er sagte auch nicht: Weil wir für dich unser Leben geben würden und dergleichen mehr, sondern nur: Weil wir vergeben." (Weg 36,7)

Wie Gott in meinem Leben ein Auge zudrückt, soll ich im Leben der Mitmenschen ein Auge zudrücken, wie Gott mir die Hand reicht, sollen wir einander die Hand reichen. Das Verhalten Gottes ist ein Vorbild und eine Herausforderung für mein und unser Verhalten.

* Im Bereich der Verzeihung erleben wir manche Grenzen. Vielleicht spielt die Verschiedenheit der Mitmenschen eine Rolle. Es gibt Menschen, die uns sympathisch sind, und unsere Wellenlänge haben. Es gibt Menschen, die unsympathisch sind, Menschen auf die wir allergisch sind, Menschen, die unseren Platz haben wollen und Menschen, die uns Schatten machen können. 

Wer seinem Mitmenschen nicht verzeiht, betrachtet vielleicht die Vergebung der eigenen Schuld als Verdienst und übersieht, dass Gott uns diese ungeschuldete Gnade geschenkt hat.

Im Buch Jesus Sirach 28,2-6 lesen wir: "Vergib deinem Nächsten das Unrecht, dann werden dir, wenn du betest, auch deine Sünden vergeben. Der Mensch verharrt im Zorn gegen den andern, vom Herrn aber sucht er Heilung zu erlangen? Mit seinesgleichen hat er kein Erbarmen, aber wegen seiner eigenen Sünden bittet er um Gnade? Obwohl er nur ein Wesen aus Fleisch ist, verharrt er im Groll, wer wird da seine Sünden vergeben? Denk an das Ende, lass ab von der Feindschaft, denk an Untergang und Tod, und bleib den Geboten treu!"

Es wird von uns Menschen eine konsequente Haltung verlangt.

- Was machst du mit deinem Groll, Zorn, Verbitterung?
- Du verzeihst nicht und willst, dass Gott Dir verzeiht? Dies ist doch ein zwiespältiges Verhalten! Wie kannst Du von Gott Verständnis und Verzeihung erwarten, wenn Du mit deinen Mitmenschen kein Verständnis hast?
- Denk an das Ende: Im Angesicht des Todes verliert manches seine Bedeutung. Titel, Posten und Ämter sind unwichtig. Warum dann nicht jetzt verzeihen?

Barmherzigkeit im Alltag

Die Barmherzigkeit Gottes erfahren wir nicht nur in Momenten der Vergebung, sondern auch in vielen Situationen des Lebens: Er zeigt Verständnis, er hat Geduld, er nimmt uns an trotz Schattenseiten, er kommt uns entgegen …
Wir sind also berufen, Barmherzigkeit zu üben, weil uns selbst bereits Barmherzigkeit erwiesen wurde.

Ich denke an ein barmherziges Verhalten im Umgang mit unseren Mitmenschen. Wir betonen ganz richtig die Bedeutung der leiblichen Werke der Barmherzigkeit; viel Gutes ist in der letzten Zeit geschehen. Die Aktualität dieser Werke darf uns von den geistigen Werken der Barmherzigkeit nicht ablenken. Viel Not ist im Verborgenen vorhanden. Habt ihr festgestellt, dass es in unseren Kreisen immer Auserwählte und Außenseiter gibt? Es gibt Menschen zweiter Klasse, die nicht dazu gehören. Ich bin davon überzeugt, dass manche geistige Not nicht existieren würde, wenn wir miteinander richtig umgehen würden.

Ich möchte einige Punkte besprechen, um damit unseren barmherzigen Umgang im Alltag zu überprüfen:

1. Unsere Mitmenschen

In einem Aufsatz über die Ehe unterstreicht Khalil Gibran die Bedeutung von Nähe und Distanz im Umgang der Menschen miteinander. Es ist auffallend, dass er von Distanz spricht im Rahmen einer ehelichen Gemeinschaft, in der man Nähe voraussetzt. Durch diese Betonung zwingt er den Lektor den Begriff Distanz-halten neu zu überdenken bzw. von einer anderen Warte zu betrachten.

Distanz und Abstand sind nicht gleichbedeutend wie Misstrauen oder vorsichtiges Abtasten. Um es zu erklären, erwähnt er folgende Beobachtung aus der Natur: Und stehet beieinander, doch nicht zu nahe beieinander: denn die Säulen des Tempels stehen einzeln, und Eichbaum und Zypresse wachsen nicht im gegenseitigen Schatten.

Es ist doch ein großer Unterschied bei einem Menschen, Schatten zu suchen oder im Schatten eines Menschen leben zu müssen. Übrigens jeder Baum, auch der, der am meisten Früchte trägt, macht einen Schatten.

Was bedeutet, von der Warte eines barmherzigen Umgangs betrachtet, gesunde Nähe oder gesunde Distanz? Diese Frage gilt nicht nur für kleine Bäume, die den anderen kaum einen Schatten machen können, sondern ganz besonders für große Bäume. Persönlichkeiten sind eingeladen, eine Nähe und Distanz zu den anderen zu pflegen, die den Mitmenschen ermöglichen, wachsen und sich entfalten zu können.

2. Mangel an Interesse für die Mitmenschen

Der Umgang mit den Mitmenschen erweist sich nicht immer als einfach. Was uns beim ersten Blick auffällt, ist die Verpackung, die nicht immer auf den wahren Inhalt und Wert des betreffenden Menschen hinweist. Da wir uns nicht selten von dieser Verpackung beeinflussen lassen, geschieht es wiederholt, dass wir den Kontakt mit Menschen suchen, die uns anziehen, während wir den Kontakt mit den anderen eher vernachlässigen.

Manche Menschen verstecken sich – etwa hinter einer dunklen Brille, einem Bart, einer Uniform, einem Lächeln. Der wahre Mensch schaut dann ganz anders aus, als er in unseren Augen sichtbar ist.

Es lohnt sich, den Charaktereigenschaften, den Problemen und den Abwehrmechanismen dieser Menschen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Der Mensch von nebenan, der Mitarbeiter, die Mitarbeiterin ist kein bloßes Blatt ohne Botschaft. Der Mensch von nebenan hat eine ganz persönliche Geschichte, er hat einen Weg durchgemacht, durch den er im Herzen reich oder arm geworden ist.

3. Blindheit

Manche sind blind, etwa aus Eifersucht, aus Enttäuschung, Fanatismus? Wir wissen es alle: Eifersucht macht blind. Papst Franziskus sagte am 21. Jänner: Neid und Eifersucht sind hässliche Sünden, die mit Worten töten. Der Neid tötet und er nimmt es nicht hin, dass ein anderer etwas hat, das ich nicht habe.

Ich glaube, dass wir manchmal übersehen, dass der Eifer blind macht. Diese Haltung wächst anscheinend aus der Tugend und dies ist gefährlich. Menschen, die das Gute wollen und gegen andere arbeiten ohne ein schlechtes Gewissen zu bekommen, denn sie meinen damit Gott einen Dienst zu erweisen.

Manchmal denke ich mir, dass die Gefahr, die von Menschen auf uns zukommt, nicht so sehr mit Bosheit sondern mit Blindheit zu tun hat: Nicht-Wissen schützt aber nicht davor, anderen Menschen Leid zuzufügen, andere zu verletzen, andere zu verleumden, andere unrecht zu behandeln. Nicht-Wissen schützt nicht davor, manches zu zerstören, manches zu verhindern, manches zu verschieben, Ungutes zu verursachen. Nicht-Wissen schützt nicht davor, falsche Schritte zu machen, die negative Spuren hinterlassen.

4. Die Absicht

Wir kennen oft die Absicht, warum unsere Mitmenschen so handeln, nicht. Es kommt immer wieder vor, dass eine in der besten Absicht vollbrachte Handlung von der Umgebung falsch interpretiert werden kann. Wir brauchen nur an Erfahrungen zu denken, die wir gemacht haben und uns fragen, wie wir mit ihnen umgegangen sind.

Jeder von uns erfährt irgendwann Ungerechtigkeit, jeder wird einmal unschuldig verurteilt, man hört wie hinter dem Rücken über uns gesprochen wird. Wie viele un-exakte Behauptungen werden weiter gegeben ohne zu überprüfen,  ob sie stimmen … In solchen Situationen die Hand zu reichen oder den Mut zu haben, mit diesen Mitmenschen von Neuem zu beginnen, ist nicht immer leicht.

Wir alle sind Geschöpfe aus der Hand Gottes, was uns eine gemeinsame Basis schenkt, wir sind aber in der Tat sehr verschieden - in unseren Reaktionen, in unseren Vorstellungen, in unserer Haltung dem Leben und den Dingen gegenüber. Diese Verschiedenheit macht uns unter Umständen viel zu schaffen, da es nicht immer leicht ist, als einmaliger Mensch inmitten von einmaligen Menschen zu leben.

5. Mangel an Verständnis

Ich wage nicht zu fragen, wie viele sich hier verstanden wissen, in ihrer Art, das Leben, die Familie, den Glauben, die Kirche zu sehen!

Teresa von Avila berichtet von Erfahrungen, die sie in diesem Zusammenhang gemacht hat. Normalerweise sind es gute Menschen, die uns mit ihrem Urteil zusetzen. Sie meint, eine der schlimmsten Sachen im Leben ist ja die Verfolgung der Guten:
sie möchten uns in drei Tagen heilig sehen,
sie können unsere Entwicklung nicht abwarten,
sie erlauben uns keinen falschen Schritt,
sie verzeihen uns nicht die kleinste Kleinigkeit.
V 31,17: "Es ist großer Mut notwendig; denn wenn eine Seele kaum begonnen hat zu gehen, so will man auch schon, dass sie fliege. Sie hat noch nicht ihre Leidenschaften überwunden, und schon will man, dass sie auch in den schwersten Anfechtungen so unbeweglich feststehe, wie man es von den Heiligen liest. Fliegen sollten wir, Heldentaten vollbringen, Außergewöhnliches leisten … Christus sieht uns mit anderen Augen als die Menschen."

6. Jeder ist anders

Es ist nicht leicht, die Eigenart eines jeden Menschen anzunehmen.  Zu den Geschenken, die Gott uns gemacht hat, gehören die Menschen, mit denen wir als Familie verbunden sind, und all jene, die mit uns leben und arbeiten, mit uns wachsen und gedeihen und so wie wir lachen und weinen, fallen und aufstehen, hoffen und bangen.

Gott hat uns Menschen geschaffen, alle gleich in der Würde, doch verschieden im Charakter, in der Veranlagung und in den Fähigkeiten. Gott hat uns Menschen zwar als Individuen geschaffen, dabei aber doch zur Menschheitsfamilie berufen, als gegenseitige Ergänzung und Hilfe.

In den Schriften Thérèses finden wir ein schönes Bild: Sie erzählt von einer Person und sagt: Es ist nicht ihr Fehler, wenn sie schlecht begabt ist, sie ist wie eine arme Pendeluhr, die man alle Viertelstunden aufziehen muss (DE S. 659 )

Schön ist das Bild: eine Pendeluhr,
wichtig ist, die Person in ihrer Einmaligkeit anzunehmen,
sich ihrer Art bewusst zu werden, um mit ihr richtig umzugehen,
denn wichtig ist, dass sie funktioniert! Und dass sie auf ihre Art lebt.

7. Umdenken

Es ist wichtig, die Fehler der Mitmenschen zu ertragen, nicht Anstoß daran zu nehmen und das Positive zu sehen, sagt uns Thérèse von Lisieux.
Oh! Ich begreife jetzt, dass die vollkommene Liebe darin besteht, die Fehler der andern zu ertragen, sich nicht über ihre Schwächen zu wundern, sich an den kleinsten Tugendakten zu erbauen, die man sie vollbringen sieht. (C 12r)

Das Positive sehen. Wir wollen uns darum bemühen, die inneren Qualitäten unserer Nächsten herauszufinden. Anstatt sich beim Äußeren einer unsympathischen Person aufzuhalten, bis zu ihrem Herzen vordringen, um darin ihre Schönheit und Großherzigkeit, einfach das Werk Gottes zu bewundern.

Wenn ihr eine kleine Aufgabe für die Freizeit oder die Pause wollt, würde ich euch den bekannten Satz von Bischof Wanke mitgeben: Du gehörst dazu.

Ihr kennt euch. Nimmt ein Blatt Papier mit den Namen von allen, die mit euch arbeiten und schreibt ganz ehrlich: Du gehörst dazu, bzw. Du gehörst nicht oder nicht ganz dazu.

Dann könnt Ihr das Blatt zerreißen. Diese kleine Übung lohnt sich.

 

Barmherzig wie der Vater, wird uns als Leitbild gezeigt. Mit diesem Impuls wollte ich mit euch überdenken, dass Gott unser ganzes Leben mit seiner Barmherzigkeit umschließt. Diese Selbsterfahrung - von Gott angenommen zu sein trotz Grenzen und Mängeln - macht uns den Mitmenschen gegenüber verständnisvoll.
Barmherziges Verhalten verlangt mehr als Verstand. Wir brauchen offene Augen und ein offenes Herz für die Mitmenschen.