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Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

Was sollen wir von Marienerscheinungen halten?

Józef Niewiadomski im "Sonntags"-Gespräch

Der Innsbrucker Dogmatiker über Volksfrömmigkeit, die tiefere Bedeutung von Marienerscheinungen und problematische Sühnevorstellungen

Der Innsbrucker Dogmatiker Józef Niewiadomski im SONNTAG-Gespräch über Volksfrömmigkeit, die tiefere Bedeutung von Marienerscheinungen und problematische Sühnevorstellungen (© Foto: Haab / Eggi / Bearbeitung KHK)
Der Innsbrucker Dogmatiker Józef Niewiadomski im SONNTAG-Gespräch über Volksfrömmigkeit, die tiefere Bedeutung von Marienerscheinungen und problematische Sühnevorstellungen (© Foto: Haab / Eggi / Bearbeitung KHK)
 (© Foto: Haab)
(© Foto: Haab)

Als Christ, als Dogmatiker: Was ist Ihr persönlicher Zugang zur Marienfrömmigkeit?
NIEWIADOMSKI: Ich beschäftige mich immer ein wenig mit marianischer Frömmigkeit, ich bin ja Pole. In meiner Jugend habe ich neunmal die Fußwallfahrt nach Tschenstochau unternommen, bin also 3.000 km „für Maria“ gelaufen und möchte das nicht missen. Die Einstellung „Das ist ein Blödsinn!“ ist mir zu simpel.

Auf welchem Hintergrund sehen Sie Marienerscheinungen?
NIEWIADOMSKI: Ich sehe in der Marienverehrung jene Schnittstelle, bei der sich die Volksfrömmigkeit mit ihren legitimen Bedürfnissen und die kirchliche Doktrin problemlos treffen können.  Diese Seite, die Bedürfnisse und Ängste von Menschen, die dort wahrnehmbar werden – Kritiker würden sogar sagen: mit heidnisch-abergläubischen Phänomenen – qualifiziere ich als volkstümlich, und keiner von uns kann sich davon frei machen. Auf der anderen Seite ist der Versuch der Kirche, das zu ordnen. Der dogmatische Anknüpfungspunkt ist klar: Das ist der Glaube an die Gemeinschaft der Heiligen, die keine Grenze im Tod hat, und deswegen beten wir für Verstorbene und sind fest davon überzeugt, dass Menschen, die verstorben und vollendet sind, auch für uns eintreten können. Hier hat Maria dogmatisch eine besonders hervorragende Bedeutung: Sie wird als Fürsprecherin par excellence angerufen. In der Marienverehrung treffen sich beide Linien, und je nach kultureller Zeit, nach Sprache und Ängsten bekommen die Formen der Marienfrömmigkeit unterschiedliche Gestalten.

Das heißt: Form und Botschaft der Marienerscheinungen sind immer im Kontext ihrer Zeit zu verstehen?
NIEWIADOMSKI: Die Frömmigkeit der Erscheinungen in der Neuern Geschichte fängt in Guadalupe an. Die Spanier kommen nach Mexiko, es kommt zu Vermischungen zwischen den Eroberern und der Bevölkerung, und es gibt absolute Außenseiter in der Gesellschaft, die Mestizen. Die Erscheinung der Mutter Gottes in Guadalupe bringt die Mestizen auf eine kirchlich gehobene Position: Ein Indio muss dem spanischen Bischof die Botschaft Marias überbringen. Und dann diese großartige Geschichte mit dem Bild Marias in dessen Poncho, das sie als Mestizin zeigt ... Diese Frömmigkeit integriert eine ausgegrenzte Gruppe, sie wird aktiv und gestaltet die religiöse
Kultur mit.

Wie ist das mit den europäischen Marienerscheinungen?
NIEWIADOMSKI: Europa erlebte im 19. Jahrhundert eine Zeit der ungeheuren Wirren, denken Sie nur an die Französische Revolution und die folgenden Nationalismen. Bedrohungen und apokalyptische Ängste sind an der Tagesordnung. Hier beginnt  die Tradition der Marienerscheinungen 1830 mit Catherine Labouré in der Rue du Bac und der Wundertätigen Medaille. Dann kommen einige sehr fragwürdige Erscheinungen wie La Salette, die fast bedrohlich sind. Auf diesem Hintergrund sehe ich Lourdes und dann Fátima. In Medjugorje schließlich verschwindet die Hölle fast radikal, sie wird lediglich noch mitgedacht. Im Zentrum der Botschaft stehen nun Friede und Versöhnung.

Durch Maria werden Menschen, die zu kurz kommen, ins Zentrum gerückt, erhalten einen Platz und Bedeutung.

Dieser Tage steht Fátima im Fokus. Wie können wir heute die dortige Botschaft verstehen?
NIEWIADOMSKI: Zu unterscheiden ist: Was ist die Botschaft, was ihre Rezeption? Von der Botschaft selber muss man festhalten: Sie geht an Kinder, zehn, neun und sieben Jahre alt. Sie bekommen in der zweiten Vision Bilder präsentiert, zuerst einmal den Himmel, danach die Botschaft von der Hölle. Ich würde fragen: Haben die Kinder, haben wir den Himmel ausreichend wahrgenommen? Und dann, in der Tradition von Fátima, kommt dieses Gebet, das oft dem Rosenkranz zugefügt wird: „... bewahre uns vor dem Feuer der Hölle. Führe alle Seelen in den Himmel, besonders jene, die deiner Barmherzigkeit am meisten bedürfen.“ Nur scheinbar hat in diesem Gebet die Hölle die Oberhand. Wenn man es richtig analysiert, ist es aber ein Gebet, in dem universale Heilshoffnung ausgesprochen wird: Die Logik läuft auf das Heil hinaus, nicht auf die Angst. Und das 1917!

Das heißt: Nicht die Hölle ist im Zentrum der Botschaft, sondern eben der Himmel und das Heil?
NIEWIADOMSKI: Dass das damalige Christentum unter Ängsten gelitten hat, ist eine historische Tatsache. Die Angst und der Wille, Menschen zu retten durch die Warnung vor der Hölle, kommen hier zusammen. Aber das kennen wir auch heute: in der Ökologie. Wir drohen permanent mit dem Weltuntergang ökologischer Natur, damit die Menschen anders handeln – genau die gleiche Argumentationsfigur.

Dann gibt es aber noch die Sache mit der Sühne ...
NIEWIADOMSKI: Das ist der Grund, weshalb Fátima zum Lieblingserscheinungsort und zum Katalysator vor allem einer katholisch fundamentalistischen Frömmigkeit wird, der dieses zornige Bild Gottes und die Sühne in den Vordergrund rückt. Die Kirche unterstützt das nicht ohne Weiteres offiziell. Theologisch betrachtet: Es gab eine Zeit, in der das Bild des zornigen Gottes und der Sühne, die Gott versöhnt, derart im Vordergrund standen, dass das in der Kirche selbstverständlich war. Wir leben aber in einer Zeit, die das sehr hinterfragt. Manche argumentieren: Das ist alles der liberale Zeitgeist, man fällt vom rechten Glauben ab. Ich gebe zu bedenken: In der Bergpredigt werden die Menschen aufgefordert, Böses nicht mit Bösem zu vergelten; sie werden sogar zur Feindesliebe aufgefordert. Die Begründung: Seid also vollkommen, wie mein himmlischer Vater vollkommen ist. Gott selber vergibt ja bedingungslos. Die Sühne-Kategorie lebt aus unserer Rechtsprechung: Wenn Unheil angetan wird, kann man nicht ohne Weiteres sagen „Ich vergebe dir“, und alles ist getan. Es muss auch irgendetwas geschehen, um das Unheil, das Böse, wieder gut zu machen. Also nicht Vorbedingung für Vergebung, sondern Wiedergutmachung. Gott kann selbst aus dem schlimmsten Unheil noch etwas Gutes bewirken. Diese Wandlung des Bösen zum Positiven finden wir in der Bibel bei Deuterojesaja und Paulus. Das ist Verwandlung des Bösen in das Gute – aber nicht eine Leistung, die wir Gott gegenüber zu bringen haben.

Was sehen Sie als Gemeinsamkeit aller Marienerscheinungen?
NIEWIADOMSKI: Wer sind die Akteure auf der menschlichen Seite? Eigentlich immer Außenseiter, Menschen, die zu kurz kommen – das ist gut jesuanisch. Durch Maria werden sie ins Zentrum gerückt, und zwar nicht als „arme Mutschkerln“, sondern durch einen Auftrag, den sie den Mächtigen gegenüber zu erfüllen haben. Benachteiligte erhalten durch die Erscheinungen Platz und Bedeutung, ohne dass Hass oder Klassenkampf bemüht werden.

Interview: Georg Haab

 

Zur Person:

Józef Niewiadomski, geboren 1951 in Polen, wurde 1975 in Rom zum Priester geweiht. Er ist Professor für Dogmatik und Systematische Theologie und war lange Jahre Dekan der Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck. 2001 und 2004 war er Gastprofessor beim Theologischen Studienjahr an der Dormition Abbey in Jerusalem.