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Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

Lebens- und Glaubenswege begleiten lernen

Der Wiener Pastoraltheologe Paul M. Zulehner über angstbesetzte Politik, mündige Christen und die Kirche der Zukunft

Der Wiener Pastoraltheologe Paul M. Zulehner über angstbesetzte Politik, mündige Christen und die Kirche der Zukunft

Der Wiener Pastoraltheologe Paul M. Zulehner im SONNTAG-Interview über angstbesetzte Politik, mündige Christen und die Kirche der Zukunft. (© Foto: SONNTAG / Georg Haab)
Der Wiener Pastoraltheologe Paul M. Zulehner im SONNTAG-Interview über angstbesetzte Politik, mündige Christen und die Kirche der Zukunft. (© Foto: SONNTAG / Georg Haab)
 (© Foto: G.Haab)
(© Foto: G.Haab)

Der Kirche laufen die Menscben davon. Es gibt immer weniger Priester, immer weniger Gläubige – was bedeutet das?
Zulehner: Grundsätzlich muss man sagen, dass eine Epoche der Kirche zu Ende geht. Und zwar eine, die relativ künstlich erzeugt war, indem wir mit allen Mitteln des Staates, der Kultur und der politischen Macht vor allem nach der Reformation erreicht haben, dass die Menschen bei uns im Land lückenlos katholisch waren, anderswo protestantisch. Aber das war eine schicksalshafte Gläubigkeit: Man konnte in Österreich nur leben, wenn man katholisch war, oder man wurde – scharf gesagt – ins Jenseits oder ins Ausland ausgewiesen. Diese Zeit ist definitiv zu Ende.

Welche Folgen sehen Sie?
Zulehner: Religion ist nicht mehr Schicksal, sie ist wählbar geworden. Ich muss mich dafür entscheiden, ob ich zur Kirche gehören will, ob ich glaube und wie ich glaube, wie das auch sonst in allen Bereichen des Lebens der Fall ist: wie ich meine Sexualität kultiviere, wie ich meine Freiheit verbringe, wie ich mit den Medien umgehe. Unsere Kirchen haben zu lange diesen Wandel übersehen. Die Frage der Zukunft ist: Wie kann man freie Menschen an das Evangelium binden? Die Kirche von morgen wird leben von wild entschlossen glaubenden Menschen, die sich dem Evangelium anschließen, der Jesus-Bewegung also beitreten, und sich auch für diese von Gott in Dienst nehmen lassen. Da geht es nicht um eine Wellness-Frömmigkeit, sondern um die Frage einer Berufung. Wenn jemand spürt, dass Gott in seinem Leben eine Bedeutung hat und dass er ihn braucht, dann wird er wie ein Priester bei seiner Weihe sagen: Herr, hier bin ich, was traust du mir zu?

Was müssen wir tun, um uns für diese neue Herausforderung zu rüsten?
Zulehner: Solche persönlichen Glaubenswege zu begleiten, ist eine der wichtigsten Aufgaben, wenn wir Pfarrgemeinden zukunftsfähig machen wollen. Je mehr es uns gelingt, solche Menschen zu gewinnen, umso besser. Wir sehen auch, dass das alles nicht gelingt, wenn wir nur gegen Abtreibung, Ehescheidung, Homosexualität kämpfen. Wir müssen fragen: Was im Evangelium zieht dich an? Wo spürst du deine Berufung? Warum kannst du letztlich gar nicht anders, wenn du dir treu bleiben willst, als dass du einsteigst in diese Jesus-Bewegung und deinen Teil beiträgst? Dazu beiträgst, dass sie in diesem Land präsent bleibt in Gemeinschaften und von diesen Gemeinschaften aus ins Land hineinfließt, in die Politik, ins öffentliche Leben, ins berufliche Leben. Wo immer du bist, bist du einer, der das Evangelium in die Gesellschaft hinein verflüssigt. Solche Leute braucht es.

Auch Papst Franziskus betont das Frohe an der Botschaft, man spürt, dass es um Leben und Freude geht und um Wertschätzung. Wie er in „Amoris laetitia“ schreibt: „... das Leben der Familien liebevoll zu hüten, denn sie sind nicht ein Problem, sie sind in erster Linie eine Chance.“
Zulehner: Das ist ohnehin die Normalität des Lebens: Zwei junge Leute fühlen sich aufeinander hin gezogen, sie verbünden sich und versuchen, mit ihrem Leben gemeinsam weiterzukommen. Und das Evangelium hat die Kraft, um den Menschen zu sagen: Geh in dieser Spur Jesu, und du wirst in einem runden Sinn des Wortes Mensch werden, du wirst ein liebender Mensch werden. Und das ist das Beste, was du dir antun kannst.

Was heißt das konkret: Die Kraft des Evangeliums neu zu entdecken?
Zulehner: Es geht darum, das Evangelium zu entdecken, das nicht nur Glück und Freude ist. Ich bin ein wenig skeptisch, ob man das nicht oft als zu gute Nachricht darstellt: Es geht ja auch darum, das Leid zu inte-grieren, die Krankheiten, die Armut, und zu schauen, dass wir sie bekämpfen. Es ist immer beides. Es geht nicht um Glück, sondern darum, dass das Leben glückt, und das ist eben doch ein anderer Akzent, als wenn man den Menschen blauäugig verspricht: Jesus liebt dich, und alles ist wunderbar. Es gibt sehr viel Leid im Leben des Menschen – und das zu integrieren, ist die eigentliche Kunst.

Ich wünsche mir eine Kirche, die nicht moralisiert, sondern das Evangelium wieder wie eine Arznei in das Leben der Menschen hi-neintröpfelt.

Das heißt: Ein Leben im Glauben lässt nicht alles glücken, aber es wird glücklicher?
Zulehner: Richard Rohr, den ich sehr schätze, sagt: Letztlich ist es vor Gott nicht wichtig, dass wir moralisch perfekt leben, sondern dass wir mit ihm in Verbindung treten, in ihn eintauchen und hineinwachsen. Das ist ja das Typische für das Evangelium: Wenn jemand wirklich eintaucht in Gott, kann dieser Mensch gar nicht anders, als bei den arm gehaltenen und arm-gemachten Menschen aufzutauchen. Das ist diese Doppelbewegung: Gott zu lieben und daher den Nächsten zu lieben. Und manchmal ist es auch umgekehrt. Dieses Zueinander von Gottes- und Nächstenliebe ist für die künftige Gestalt des Christseins ganz zentral.

Momentan scheint aber nicht Nächstenliebe unser Zusammenleben zu bestimmen, sondern diverse Ängste.
Zulehner: Ich glaube, dass viele Menschen Angst bekommen haben, nicht erst, seit die Flüchtenden in großer Zahl zu uns kommen, sondern dass schon die Finanzkrise einem Teil der Bevölkerung sehr zu schaffen gemacht hat. Wir haben vor allem soziale Abstiegsängste, und tragischer Weise vermindert die Politik diese Ängste nicht, sondern vermehrt sie. Gleichzeitig erkennen wir: Wir werden nicht mehr, so wie das über Jahrzehnte erfolgreich möglich war, eine Insel des Reichtums inmitten einer Wüste der Armut sein. Darauf weist Papst Franziskus deutlich genug hin: Wenn es nicht mehr Gerechtigkeit geben wird, und zwar zwischen reich und arm, zwischen den Regionen der Erde, dann werden wir weltweit keinen Frieden bekommen. Die Menschen zieht es in die reichen Länder Mitteleuropas, nicht nur, weil sie arm sind, sondern weil sie keine Hoffnung haben, dass die Armut überwunden werden kann. Sie sind deshalb keine Wirtschaftsflüchtlinge, auch nicht Armuts-, sondern Hoffnungsflüchtlinge, und die könnte man in einem gerechteren Europa besser verteilen. Die Flüchtlingsthematik ist hier mehr oder minder eine Lesehilfe für den Zustand Europas.

Spiegelt sich die gesellschaftliche Angst auch innerhalb der Kirche?
Zulehner: Ich glaube, dass es in der Kirche weniger die Angst ist, es sind platte Ideologien. Es ist eine Vorstellung von Familie, die manche haben, die Vorstellung, dass die Kirche sich in der Moraltheologie erschöpft. Es ist kein Streit zwischen rechts und links, sondern der Streit zwischen Ideologen und Hirten.

Wo sehen Sie die eigentliche Herausforderung für die Kirche?
Zulehner: Die Herausforderung ist, dass man sehr gut ins Land hineinschaut, wie es den Menschen geht, dass man eine große Sympathie hat für die, die unter die Räder des Lebens kommen. Ich wünsche mir eine Kirche, die ein hohes Gespür dafür hat, dass die Menschen es redlich meinen, dass sie guten Willens sind, auch die, die an die Ränder gedrängt worden sind durch das Leben, auch die, die aus Schuld und Tragik in ihrer Liebesgeschichte nicht vorangekommen sind. Eine Kirche, die nicht moralisiert und den Menschen nicht ihre Sünden vorwirft, sondern das Evangelium wieder wie eine Arznei in das Leben der Menschen hineintröpfelt, heilt Wunden und ist Feldlazarett, wie Papst Franziskus sagt. Eine solche Kirche findet bei immer mehr modernen Menschen durchaus Verständnis und Sympathie.

Interview: Georg Haab

 

Zur Person:

Univ.-Prof. em. DDr. Paul M. Zulehner, geb. 1939, ist einer der bekanntesten deutschsprachigen Pastoraltheologen. Am 20. und 21. Mai war er auf Einladung der Klagenfurter Dompfarre, der Katholischen Hochschulgemeinde und der Caritas zu Predigten und Vorträgen in Klagenfurt.