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Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

Junge Menschen brauchen Religion

Die Kärntner Schriftstellerin Ilse Gerhardt im SONNTAG-Gespräch

Die Autorin und Kulturjournalistin über ihr Buch „Staatenlos“, die Migrationsdebatte und die Bedeutung von Literatur für die Welt

Ilse Gerhardt. Kärntner Autorin und Kulturjournalistin über ihr jüngstes Buch „Staatenlos“, die Migrationsdebatte und die Bedeutung von Religion und Literatur für die Welt (© Foto: hermagoras)
Ilse Gerhardt. Kärntner Autorin und Kulturjournalistin über ihr jüngstes Buch „Staatenlos“, die Migrationsdebatte und die Bedeutung von Religion und Literatur für die Welt (© Foto: hermagoras)
Schriftstellerin Ilse Gerhardt (© Foto: privat)
Schriftstellerin Ilse Gerhardt (© Foto: privat)

Frau Gerhardt, Sie haben bereits mehrere Bücher verfasst, zuletzt Ihren Roman „Staatenlos“, die Geschichte eines Staatenlosen, eines Menschen ohne Staatsangehörigkeit, auf der Suche nach seinen Eltern. Was war Ihre Intention, dieses Buch zu schreiben?
Gerhardt: „Staatenlos“ ist die Geschichte eines Kellners, die mich sehr berührt hat. Joe alias Giovanni alias Jean habe ich am Klopeinersee in einem Hotel kennengelernt. Joe wurde in der Kärntner Nachkriegszeit geboren. Seine Mutter, so erzählte er mir, war eine italienische Partisanin und spätere Zwangsarbeiterin in Kärnten; sein Vater war französischer Résistancekämpfer – und späterer Kriegsgefangener. Joe wurde von seiner Mutter als Säugling nach dem Zweiten Weltkrieg weggegeben – einer Passantin auf der Straße. Er hat sein halbes Leben lang nach seinen Eltern gesucht, und sie schließlich gefunden. Mir ist aufgefallen, dass er vier Sprachen perfekt konnte: Deutsch, Englisch, Italienisch und  Französisch. Ich habe herausgefunden, dass er immer noch staatenlos war. Der Bub wurde von einer englischen Offiziersfamilie im Nachkriegskärnten aufgezogen und genoss eine sehr gute Erziehung; Joe sprach als Kind nur Englisch, obwohl er in Kärnten aufgewachsen war. Dieser Joe war ein Jahr jünger als ich und sehr gebildet.

Und dann?
Gerhardt:  Als Journalistin wollte ich alles genau wissen. – Plötzlich ist er nicht mehr da gewesen, weil er schwer erkrankte. Das hat mich sehr getroffen und daher wollte ich ein Buch über ihn schreiben, seine Geschichte aufgreifen und nicht fallen lassen. Das war im Jahr seines Todes. Joe starb 2013 als Staatenloser, der er sein Leben lang blieb.

Was wollen Sie Ihren Leserinnen und Lesern mit Joes Geschichte vermitteln?
Gerhardt:  Es ist seine berührende Lebensgeschichte, die mit ihrer Außergewöhnlichkeit zeitgemäß ist und dennoch Normen sprengt. Die Geschichte handelt in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die mich interessiert. Ich schreibe faktisch alle Ereignisse der Nachkriegszeit, die mir begegnen, auf, da sie in der Literatur viel zu wenig dokumentiert sind. Die Aufarbeitung dieser Geschichte hat auch mit meinem jüdischen Ursprung zu tun.

Ist es in einer Weise eine Parabel auf den verlorenen Sohn oder eine Suche nach sich selbst?
Gerhardt:  Ja, durchaus eine Identitätssuche. Dies ist für mich etwas ganz Wichtiges, auch das Gleichnis vom verlorenen Sohn hat damit zu tun. In meinem Buch „Staatenlos“ ist sehr viel gleichnishaft. Es erinnert in einer Weise an altgriechische Tragödien.

Wie stehen Sie heute zu Menschen, die staatenlos sind, angesichts der weltweiten Migrationsbewegung?
Gerhardt:  Das Thema ist erschütternd und sehr aktuell. Ich habe im Dienste der Caritas Deutschunterricht für Flüchtlinge gegeben. Ich selbst war im Jahr 1964 ein Jahr in Israel, in der Nähe der Golanhöhen, als wir von den Syrern beschossen wurden. – Plötzlich, Jahre später, gebe ich Syrern Deutschunterricht: Sie waren meine begabtesten Schüler und alle sind heute in Wien.

Wo kann Literatur in der Welt ansetzen?
Gerhardt: Ich habe immer die Hoffnung, dass die Menschen in der persönlichen Charakterbildung und ethisdh besser werden. Hier können die Literatur und die Kunst viel beitragen. Literatur kann den Menschen einen Spiegel vorhalten, ihr Verhalten vielleicht auch korrigieren, besonders durch Nachdenken. Hier spielt die bildende Kunst eine ganz bedeutende Rolle: Bei der bildenden Kunst geht es mit einem Blick. Beim Lesen muss man sich anstrengen.

Sie sind Obfrau der IG (Interessengemeinschaft) Autorinnen  Autoren Kärnten: Was wollen Sie in Ihrer Funktion bewirken?
Gerhardt: Ich möchte den hochtalentierten Kärntner Autorinnen und Autoren helfen, nicht nur für die Lade zu schreiben, sondern auch zu veröffentlichen, in den Betrieb hineinzukommen. Schriftsteller sind stille Einzelgänger, die sehr auf sich und ihre Arbeit, das Schreiben, konzentriert sind und dazu gezwungen sind, einem Brotberuf nachzugehen. Ich persönlich hatte den Journalistenberuf sehr gerne und glaube, dass meine wöchentliche Glosse in einer Zeitung gut ankommt.

Was wären Ihre wichtigsten Ziele bzw. Wünsche – an die Gesellschaft und auch an die Politik?
Gerhardt: Wir wünschen uns, dass die Literatur-Schaffende in der Gesellschaft eine bessere Achtung erhalten, nicht Verachtung. Kritik muss akzeptiert werden. Deshalb mag ich Thomas Bernhard so sehr. Er war kein Utopist, sondern er war für mich ein Visionär.

Welche Autorinnen werden es Ihrer Ansicht nach noch weit bringen?
Gerhardt: Rebekka Scharf aus St. Stefan im Lavanttal ist ein großes Talent. Ich halte sie für eine Nachfolgerin der Christine Lavant; ebenso ist Anneliese Merkač-Hauser eine hervorragende Lyrikerin.

Was bedeutet für Sie Schreiben?
Gerhardt: Man kehrt die Seele nach außen. Alle Bedenken, Ärgernisse, Sorgen und Freuden werden durch das Schreiben ausgedrückt. Die Seele wird gereinigt.

Sind Sie religiös?
Gerhardt: Ich bin in einer gewissen Weise religiös. Als Lutheranerin ist die Religion für mich ein wichtiger Bildungsinhalt. Ich rate allen jungen Menschen, sich nicht von der Religion abzuwenden, weil sie sonst die abendländische Bildungsbasis, die Zuversicht und den Glauben verlieren.