Organisation

Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

“Ich muss hier raus!”

Michael Klessmann im Interview

Der Seelsorger und Pastoralpsychologe zu Überforderungssituationen in der Pflege, dem Tabuthema Aggression und dem konstruktiven Umgang mit persönlichen Grenzen

Der Seelsorger und Pastoralpsychologe Michael Klessmann im SONNTAG-Interview zu Überforderungssituationen in der Pflege, dem Tabuthema Aggression und konstruktivem Umgang mit persönlichen Grenzen (© Foto: SONNTAG / Georg Haab)
Der Seelsorger und Pastoralpsychologe Michael Klessmann im SONNTAG-Interview zu Überforderungssituationen in der Pflege, dem Tabuthema Aggression und konstruktivem Umgang mit persönlichen Grenzen (© Foto: SONNTAG / Georg Haab)
Michael Klessmann bei der Tagung der österreichischen KrankenhausseelsorgerInnen in St. Georgen a. L. (© Foto: Haab)
Michael Klessmann bei der Tagung der österreichischen KrankenhausseelsorgerInnen in St. Georgen a. L. (© Foto: Haab)

„Ich muss hier raus!“ war das Motto der Krankenhausseelsorger-Tagung im März in St. Georgen. Der Aufschrei spricht aber auch manchem pflegenden Angehörigen aus dem Herzen. Woraus entsteht dieses Gefühl?
Klessmann: Pflegende Angehörige sind in einer ganz besonderen Situation: Sie wollen das Beste, sind aber ständig in der Gefahr der Überlastung. Aus der körperlichen Anstrengung entsteht leicht so etwas wie eine psychische Überforderung: der Anspruch, ständig da sein zu müssen, und oft das Gefühl, ich möchte dieser nahestehenden Person etwas Gutes tun und merke, dass meine Fähigkeiten und Kapazitäten begrenzt sind. Dadurch entsteht eine Frustration. Es kommt zu Kommunikationsstörungen, und das ist die klassische Situation, die Aggression auslöst: Ärger, Wut, Enttäuschung. Und bekanntermaßen ist Gewalt in der Pflege, auch in der häuslichen Pflege, ein verbreitetes Phänomen; gleichzeitig ist es so hoch schambesetzt: Niemand will seine Eltern irgendwie gewalttätig behandeln. Aber es passiert, und weil es passiert und eigentlich nicht passieren soll, verschweigt man es. Man kann selbst guten Freunden kaum davon erzählen, was aber wiederum wichtig wäre, um sich von dem psychischen Druck zu entlasten.

Obwohl es niemand will, ist irgendwann die Belastungsgrenze erreicht. Es platzt sozusagen der Kragen, und man steht vor dem Scherbenhaufen.
Klessmann: Dazu trägt sicher auch die lange Zeit bei, die eine solche Pflegesituation in der Regel in Anspruch nimmt. Wenn ein Elternteil nach einem Schlaganfall oder einem Herzinfarkt pflegebedürftig wird, weiß man nicht, wie lange das geht – es können Jahre sein. Mehrheitlich sind es Frauen, die ihre Eltern oder Schwiegereltern pflegen, und sie müssen in dieser Situation ihren Beruf und die Pflege in Einklang bringen. Das löst auch viel schlechtes Gewissen aus. Aus dem schlechten Gewissen entstehen wieder, weil es so schwer erträglich ist, Ärger, Wut, Enttäuschung, Groll. All das kommt zum Ausdruck in der Art und Weise, wie man dann die Pflege vollzieht.

Auch auf der anderen Seite gibt es das: Der zu Pflegende findet sich in einer für ihn entwürdigenden Situation wieder und reagiert entsprechend.
Klessmann: Das ist sicher eine Kränkung für die zu Pflegenden; besonders im Pflegeheim oder Krankenhaus, weil man dort einer unter vielen ist. Man muss sich von fremden Menschen pflegen lassen, man hat keine wirkliche Intimsphäre mehr, man muss sich vor anderen nackt zeigen, hilfsbedürftig und gebrechlich. Diese Kränkung, die die Pflegesituation mit sich bringt, ist zu Hause viel weniger ausgeprägt als in einer Institution.

Sie ermutigen also, so lange wie möglich zu Hause zu pflegen?
Klessmann: Familie bietet eine Atmosphäre, die alle am Leben teilhaben und dazugehören lässt. Gleichzeitig ist in der Familie die Belastung der Pflegenden besonders hoch, weil auch der Anspruch besonders hoch ist: Man will ja dem Vater oder der Mutter das Beste zukommen lassen und spürt gleichzeitig, wie sehr man damit an Grenzen stößt. Dieses Konfliktfeld führt immer wieder dazu, dass die ursprüngliche Liebe, die zwischen Kindern und Eltern vorhanden ist, doch irgendwie verschüttet wird und es zu latenten Konflikten kommt. Latent deshalb, weil man sich nicht traut, sie offen zu machen. Man will ja liebevoll sein. Aber die Kommunikation verschlechtert sich, die Atmosphäre wird gereizt, und es kommt ungewollt leicht zu aggressiven Handlungen von beiden Seiten: Man versteht sich nicht mehr, giftet sich an, geht sich aus dem Weg, berücksichtigt Wünsche nicht mehr angemessen. Dann kommt es auch leicht zu physischer Gewalt: Man greift zu hart an, lässt jemanden zu lange auf der Bettpfanne warten, wird handgreiflich. Die Struktur der Pflegesituation ist eine, die potenziell sehr aggressionsfördernd ist.

Was kann man tun, um das zu vermeiden, was niemand will?
Klessmann: Präventiv ist zunächst einmal das Bewusstsein darum, dass dies eine Situation ist, die potenziell Menschen überfordert. Dass man den eigenen Idealismus selbstkritisch betrachtet. Durch die Erzählungen von vielen anderen weiß man, wie schnell Menschen an ihre Grenzen kommen. Das andere ist: Wenn man es sich eingesteht, frühzeitig Hilfe zu holen. Es fängt damit an, dass man sich beraten lässt oder bei Freundinnen und Freunden einfach einmal die eigene Belastung zur Sprache bringen kann, damit man einmal das los wird, was einem auf dem Herzen liegt – gerade solche Konfliktsituationen.
Es entlastet auch, wenn einem kompetente Pflegefachkräfte zeigen, was in der Pflege nötig ist, welche körperlichen Entlastungen möglich sind und man auch lernt, sich Rückzugszeiten zu nehmen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Auszeiten sind legitim, sonst besteht die Gefahr, dass man selbst zusammenbricht, und damit ist niemandem geholfen.

Wenn der Pegel so weit steigt, dass jemand Grenzen überschreitet – wie damit umgehen?
Klessmann: Wenn jemand mit Schrecken feststellt: Jetzt ist mir dies passiert, was ich eigentlich gar nicht möchte!, ist der Zeitpunkt gekommen, Hilfe zu suchen. Es gibt Einrichtungen der Caritas oder der Diakonie, wo man sich Beratung holen kann in doppelter Hinsicht: äußerliche Hilfe, Pflegedienste, die einen von der Pflegeverpflichtung wenigstens teilweise entlasten, und andererseits, um die psychosoziale Dynamik, die sich ergeben hat, auszusprechen, damit bewusst zu machen und so zu entschärfen. Wenn man sich aber so dafür schämt, dass man nichts sagt, entgleist die Situation leicht.

Wenn ich Zeuge einer solchen Situation werde: Was kann ich tun, ohne es noch schlimmer zu machen?
Klessmann: Das ist ganz schwierig, weil man als Außenstehender schnell als Besserwisser erscheint, und das wird zwangsläufig abgewehrt. Eine sehr vorsichtige Herangehensweise ist nötig: dass man der Person sagt „Ich bin ein wenig betroffen ...“, also dass man es als persönliche Reaktion formuliert und nicht als „Du hast ... !“ Oder „Ich habe jetzt gesehen, wie schwierig im Moment die Situation ist ... Magst du erzählen, wie es dir damit geht?“ Eine solche Frage lädt die pflegende Person ein, von ihren Schwierigkeiten zu berichten. Sobald ein moralischer Ton hereinkommt, wird das Gespräch vermutlich scheitern, und weil so viel Scham im Spiel ist, wird leicht jede „Veröffentlichung“ abgelehnt.

Was möchten Sie allen Pflegenden ans Herz legen?
Klessmann: Dass Ärger und Aggression eine konstruktive Funktion haben können. Sie können Kommunikation wiederherstellen und dazu dienen, den eigenen Selbstwert zu stabilisieren, auf verdrängte, unterdrückte Seiten hinweisen usw.
Zu Pflegende z. B. können sich entwertet fühlen; dann dient Ärger dazu, einen Rest von „Ich bin noch wer“ spürbar zu machen und „Ich kann noch etwas“ und „Ich möchte auf mich aufmerksam machen“. So können Ärger und Aggression aus verfahrenen Situationen herausführen und das, was lange unterdrückt worden ist, wieder auf den Tisch bringen, damit es besprechbar wird.

Interview: Georg Haab

 

Zur Person:

Prof. em. Dr. theol Michael Klessmann, geb. 1943 in Deutschland, war Hauptreferent bei der Tagung der österreichischen Krankenhausseelsorgerinnen und -seelsorger, zu der die Kärntner Krankenhausseelsorge vergangenen März nach St. Georgen am Längsee eingeladen hat. Der emeritierte Universitätsprofessor für Praktische Theologie ist ebenfalls Pastoralpsychologe, Lehr-Supervisor und hat langjährige Erfahrungen in der klinischen Seelsorge.