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Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

Entwicklungshelfer in der Wirtschaftsmacht Brasilien

Interview mit dem Diakon und Entwicklungshelfer Martin Mayr

Interview mit dem Diakon und Entwicklungshelfer Martin Mayr

Im SONNTAG-Interview mit Diakon Martin Mayr auf der Suche nach Recht und Gerechtigkeit zwischen Kleinbauern und Agrarkonzernen (© Foto: SONNTAG / Georg Haab)
Im SONNTAG-Interview mit Diakon Martin Mayr auf der Suche nach Recht und Gerechtigkeit zwischen Kleinbauern und Agrarkonzernen (© Foto: SONNTAG / Georg Haab)
 (© Foto: Haab)
(© Foto: Haab)

Sie sind Oberösterreicher, aber leben und arbeiten in Brasilien?
Mayr: Genauer gesagt in West-Bahia. Bahia ist ein Bundesstaat im Nordosten von Brasilien, etwas größer als Frankreich – ein Landstrich mit breiten Tälern, reich an Wasser, Wild, Fischen und Früchten. Die Region ist seit Ende der 1970er-Jahre ganz stark im Zentrum des Agro-Business. Zuerst des brasilianischen, jetzt des internationalen.

Welche Probleme bringt das mit sich?
Mayr: Am Oberlauf des Rio Preto stehen sich zwei Hauptakteure gegenüber: ein großer Agro-Konzern, der ein Landgut mit 315.000 Hektar betreibt, hauptsächlich mit Baumwoll- und Soja-Anbau, und der z. B. die schottische Textilindustrie mit hochwertigster Baumwolle beliefert. Und auf der anderen Seite die Kleinbauern, die Rinder züchten und Bohnen, Mais und Maniok für den eigenen Bedarf anbauen. Sie waren früher dort, haben aber keine verbrieften Landrechte. Sie stehen dem Konzern im Weg; deshalb wird großer Druck auf sie ausgeübt, damit sie weggehen. Dazu kommt die ökologische Problematik, am gravierendsten zu sehen beim Wasser: Durch die monokulturelle Bewirtschaftung großer Flächen wird viel weniger Regenwasser gespeichert; es fließt oberflächlich ab oder verdunstet, der Boden erodiert, das Grundwasser sinkt.

Was ist die Arbeit eines Entwicklungshelfers in einer Wirtschaftsmacht wie Brasilien?
Mayr: Wir haben den Anspruch, den Menschen nicht nur aus einem momentanen Problem zu helfen, sondern auf lange Sicht. Damit sind wir voll in der Territorial-Problematik und den strukturellen Problemen. Brasilien hat zwar eine ungeheure wirtschaftliche Macht, aber der Reichtum ist unglaublich ungerecht verteilt. Entwicklung bedeutet aber auch Standards im Bildungs- und Gesundheitsbereich, funktionierende Rechtsprechung und Institutionen. Genau das spricht die Enzyklika „Laudato Si“ an: Menschen, die mit ihrem natürlichen Umfeld harmonisch zusammenleben, sind ein Modell, an dem wir unsere Zivilisation ausrichten können – nicht allein die Erhöhung der Produktivität.

Wie sieht die konkrete Situation in Ihrem Arbeitsgebiet aus?
Mayr: 1975 begann eine Unternehmergruppe aus Rio de Janeiro, das Land in Beschlag zu nehmen – „land grabbing“. Widerstände wurden mit Rechtsbeugung und Gewalt aus dem Weg geräumt. Dann begann die intensive landwirtschaftliche Nutzung. Der Großgrundbesitz wird durch Zäune und bewaffnete Wachposten gesichert. Der Druck auf die Kleinbauern verstärkt sich, sie werden in immer kleineren Gebieten zusammengedrängt. So verlieren sie den freien Auslauf für ihr Vieh und die Anbauflächen.

Lassen sich solche Rechtsbrüche nicht vor Gericht regeln?
Mayr: Natürlich wird um das ersessene Landrecht der Kleinbauern auch vor Gericht gestritten, wo sie sogar Recht bekommen. Aber es  ist typisch für Brasilien: Eine einstweilige Verfügung vom 12. Mai 2017 konnte dem Großgrundbesitzer bis heute nicht zugestellt werden, so dass sie offiziell immer noch nicht gültig ist. Erst war der Gerichtsdiener, der den Bescheid zustellen sollte, im Krankenstand, dann ein anderer; dann war der Großgrundbesitzer in einem anderen Teil des Landes, so dass es zu teuer war, ihm den Bescheid dorthin zuzustellen ...

Das klingt recht abenteuerlich ...
Mayr: Wir begleiten einen anderen Fall, der schon vier Menschen das Leben gekostet hat. Seit 2008 ist der Agrarsektor für große Invesitionsgesellschaften wieder interessanter geworden, weil er relativ verlässlich ist. Eine brasilianische Firma hat sich Land angeeignet, und wir wussten lange nicht, wer dahintersteht und was damit passieren soll. Heute wissen wir: Es ist die Harvard-Universität. Sie brauchen für ihre Forschungen sehr viel Geld, und hier denken sie, ertragreich zu investieren.

Hat nicht auch der Staat Interesse daran, weil Großproduzenten mehr Steuern zahlen als Kleinbauern?
Mayr: Ja, sicher, hauptsächlich aufgrund der Umsätze im Exportsektor; das bringt Devisen, um z. B. die Renten zu finanzieren. Deshalb profitiert die Agrarwirtschaft auch von vielen Subventionen und Schuldenerlässen. Die Wirtschaft ist auch im Kongress überproportional vertreten. Das gehört zur Geschichte Brasiliens: zunächst die Zuckerbarone, dann die Kaffeeproduzenten, jetzt die Agrarkonzerne. So ist auch der andauernde Wirbel um Ex-Präsident Lula zu sehen: Er hat fragwürdige Seiten, aber auch große Verdienste um Bildung und Überwindung der Armut – aber das Kapital hat ihm immer sehr zugesetzt. Aktuell wird versucht, ihm durch eine Haftstrafe eine erneute Kandidatur zu unmöglich zu machen. In den Umfragen wäre er deutlich vorne.   
Ein Argument ist ja auch, dass die wachsende Weltbevölkerung ernährt werden muss.
Mayr: Diese Erklärung geht am eigentlichen Problem vorbei, wie der indische Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen aufzeigt: Die Nahrungskrisen haben nicht mehr damit zu tun, dass zu wenig Nahrung da wäre, sondern dass die Bedürftigen nicht die Kaufkraft haben, Nahrung zu erstehen.

Welche Möglichkeiten bleiben in einer solchen Situation?
Mayr: Wesentlich ist, dass die Sachen bekannt werden. Wir hoffen, dass der Druck so groß wird, dass die ca. 54.000 Hektar, die von den Kleinbauern genutzt werden, ihnen definitiv zugesprochen werden, samt grundbücherlicher Eintragung. Das größte Druckmittel aber ist, wenn die Käufer z. B. der Baumwolle sich der Produktionsbedingungen bewusst werden und Produkte, die mit Problemen behaftet sind, nicht kaufen. Das spüren die Erzeuger am Absatz und müssen reagieren.

Interview: Georg Haab

 

Zur Person:

Martin Mayr, geb. 1961 in Windischgarsten, Ausbildung zum Lehrer, dann in Wien bei P. Sporschill in der Caritas tätig, ging 1991 als Entwicklungshelfer des Österreichischen Entwicklungsdienstes nach West-Bahia. Verheiratet mit einer Brasilianerin, vier Kinder. Martin Mayr ist Ständiger Diakon der Diözese Barreiras und als solcher mit der Koordination der diözesanen Sozialpastoral betraut. Die Projekt-Begleitung in den abgelegenen Gebieten des „Cerrado“schließt auch Wortgottesdienste, Taufen, Begräbnisse und Hochzeiten ein.

Die von Mayr geleitete Entwicklungs-Organisation 10envolvimento gliedert sich in das Sozial-Programm der nordostbrasilianischen Diözese Barreiras (Bundesstaat Bahia) ein und ist Projektpartnerin von „Bruder und Schwester in Not“. 2017 hat 10envolvimento sein 13. Arbeitsjahr absolviert, die Organisation gilt mittlerweile als Referenz-Institution zivilgesellschaftlichen Engagements im „Cerrado“ des Bundesstaates Bahia.
Filmtipp dazu: https://www.dioezese-linz.at/site/missionsstelle/home/news/article/84589.html