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Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

Die Theologie kann im Dialog mit der Literatur vieles lernen

Der Wiener Dogmatiker über die großen Fragen des Lebens in Gegenwartsliteratur und Theologie

... und wie erstere hilft, die Schätze im eigenen Glauben neu zu entdecken

Der Wiener Universitätstheologe Jan-Heiner Tück im SONNTAG-Interview über die großen Fragen des Lebens in Gegenwartsliteratur und Theologie, und wie erstere hilft, die Schätze im eigenen Glauben neu zu entdecken. (© Foto: SONNTAG / Georg Haab)
Der Wiener Universitätstheologe Jan-Heiner Tück im SONNTAG-Interview über die großen Fragen des Lebens in Gegenwartsliteratur und Theologie, und wie erstere hilft, die Schätze im eigenen Glauben neu zu entdecken. (© Foto: SONNTAG / Georg Haab)
 (© Foto: Haab)
(© Foto: Haab)

Am 21. Oktober leiten Sie in Maria Saal einen Studientag zu religiösen Suchbewegungen in der Gegenwartsliteratur. Welche Suchbewegungen fallen Ihnen auf?
Tück: In der Gegenwartsliteratur gibt es viele Suchbewegungen, sie ist polyphon und nicht auf ein Schlagwort zu reduzieren. Der Titel der Veranstaltung nimmt auf Martin Walser Bezug, der geäußert hat, dass etwas fehlt, wenn Gott fehlt. Er hat damit einen Phantomschmerz angesprochen. In einer ausdifferenzierten Gesellschaft, die auf die Perfektionierung von Abläufen abgestellt ist, ist es wichtig, Orte für letzte Fragen zu haben. Literatur kann ein solcher Ort sein. Sie gibt keine Antworten, aber stellt eindringlich Fragen. Sie hält das ganze Spektrum menschlicher Erfahrungen – emphatische Glückserfahrungen ebenso wie abgründige Erfahrungen der Leere, des Schmerzes, des Abschiedes –, präsent und tut dies in einer Sprache, die passgenau ist und Wirklichkeit verdichtet.

Hat die Kirche den direkten Draht zu diesen großen Fragen verloren?
Tück: Ich glaube nicht, dass man die Sprache der Literatur einfach in die der Theologie übersetzen kann. Literatur ist tastend, suchend, erfahrungsbezogen. Theologie ist Reflexion und hat eine eigene Begriffssprache ausgebildet, um Erfahrungen des Glaubens zu reflektieren. Überdies gibt es sprachmächtige Theologen wie Guardini, Rahner, Metz oder Hans Urs von Balthasar. Aber in der Literatur wird das, was theologisch verknappt in Begriffe wie Gnade, Sünde oder Opfer gefasst wird, narrativ oder dramatisch durchgespielt. Existentielle Erfahrungen, die hinter solchen Begriffen stehen, werden lebensnah und plastisch vor Augen geführt. Wenn man die Verständigungspotenziale zwischen gläubigen, halbgläubigen oder nichtgläubigen Zeitgenossen fördern will, kann man anthropologisch auf diese Grunderfahrungen Bezug nehmen. Denn Erfahrungen des Glücks, der Leere oder des wohltemperierten Lebens in der Mittellage kennen wir alle. Die Frage ist: Wie deuten wir sie? Elias Canetti hat einmal gesagt: „Das Schwerste für den, der an Gott nicht glaubt: dass er niemanden hat, dem er danken kann.“

Ist uns vielleicht das Bindeglied zwischen der Theologie bzw. dem Glauben und dem Leben abhanden gekommen? Mit Elias Canetti gesprochen: Ist Gott kein lebendiges Gegenüber mehr?
Tück: Es gibt gewiss eine Kluft zwischen Alltagserfahrungen und theologischer Reflexion. Allerdings würde ich das nicht allein der Theologie anlasten, sondern auch die Schwierigkeiten des Glaubens heute in den Blick nehmen. Wir leben in komplexen Gesellschaften, in denen der einfache Glaube durch das Purgatorium von kritischen Anfragen hindurch muss, um bestehen zu können, manchmal bleibt er dabei auf der Strecke. Die Erosion des Glaubens wirkt auf die Theologie zurück, weil ihre Ausgangsbasis dadurch kleiner wird. Gleichzeitig wird sie selbst pluraler, weil sie auf die unterschiedlichen Anfragen aus Philosophie und Humanwissenschaften reagieren muss. Das Ergebnis ist paradox: Je spezieller sie wird, um ihre Relevanz unter Beweis zu stellen, desto mehr verliert sie an allgemein orientierender Kraft. Deshalb ist es wichtig, immer wieder auf die Ressourcen der Heiligen Schrift zurückzukommen und die großen Zeugen der theologischen Tradition für heute aufzuschlüsseln.

Was haben die Autoren, auf die Sie in Maria Saal eingehen, dazu zu sagen?
Tück: Martin Walser nimmt zum Ausgangspunkt, dass wir in einem „Reizklima des Rechthabenmüssens“ leben: Jeder will Recht haben. Das bedeutet: Er bezichtigt andere, um von sich abzulenken. Walser stellt hypothetisch die Frage: Was wäre, wenn wir von einem gnädigen Blick ausgehen könnten, der uns das gibt, worum wir immer ringen, nämlich Anerkennung? Wie besänftigt könnten wir sein und endlich davon ablassen, andere zu bezichtigen und die Schuld abzuwälzen! Diese Perspek-tive des „als ob“, die ein agnostischer Schriftsteller einspielt, ist eine schöne Vorlage, um gnadentheologisch weiterzudenken.

Und Thomas Hürlimann?
Tück: In der eindrucksvollen Erzählung „Die Tessinerin“ nimmt Hürlimann den Krankheits- und Sterbeprozess einer Frau in den Blick. In dem Dorf, in dem sie lebt, ist sie fremd, weil sie als Tessinerin einen anderen Hintergrund mitbringt. Ihr Mann, ein Dorflehrer, muss damit zurande kommen, wie seine Frau immer hinfälliger wird und stirbt. Das Starke an der Erzählung ist, dass Hürlimann dichte Einschübe macht, die zeigen, dass seine Erzählung eine Stellvertretungsgeschichte ist. Er wollte über den frühen Tod seines Bruders schreiben, ist daran aber gescheitert. Schweigen wollte er auch nicht, so hat er die „Tessinerin“ geschrieben und autobiographische Protokolle vom Sterbebett seines Bruders eingeflochten. Theologie hat auf solche Grenzerfahrungen einzugehen, wenn sie die Hoffnung, dass es über den Tod hinaus eine Perspektive gibt, glaubwürdig vertreten will. Erfahrungen des Abschied-Nehmen-Müssens und Schmerzes darf sie dabei nicht leichtfertig überspielen.

Noch eine persönliche Frage: Woher rührt Ihr großes Interesse für Literatur?
Tück: Ich lese einfach gerne, das weitet den Blick und schult die Sprachfähigkeit. In der Literatur finde ich Verdichtungen, die ich anderswo kaum finde. In der heutigen Theologie etwa wird gerne und oft die Frage nach der Abwesenheit Gottes angesichts von Leid und Unheil gestellt. Dabei wird vielleicht vergessen, dass Gott selbst uns auf verborgene Weise nahekommt. „Die Frage Gottes in mir: Warum bist du nicht da?“, notiert Handke einmal. Und in seinem Buch „Der große Fall“ gibt es eine eindrückliche Passage, wo ein Schauspieler von der Peripherie in das Zentrum einer Stadt geht und an der Schwelle zur Stadt plötzlich Kirchenglocken hört, sich von ihnen hineinlocken lässt in eine Messe und dort unversehens eine Freude verspürt, die in ihm bleibt. Im Weitergehen fragt er sich, was diese Freude unterscheidet vom flüchtigen Vergnügen, das er sonst so kennt. Und er kommt darauf, dass dies eine Freude ist, die durch das Leiden hindurchgegangen ist. Theologisch formuliert: Die Feier der memoria passionis setzt eine Freude frei, die das Leid nicht verdrängen muss, die die Erinnerung an die Opfer nicht abschiebt, sondern präsent hält. Diese durch das eucharistische Mysterium freigesetzte Freude sollte auch den Glauben prägen. Das sind Zeugnisse, die uns selbst an das Eigene erinnern. Auch Felicitas Hoppe hat einmal beiläufig auf das Einzigartige des Beichtsakramentes aufmerksam gemacht: Man kann hier alles in das aufgespannte Ohr Gottes hineinstammeln – die Schuld muss nicht verdrängt werden, sie wird bekannt und vergeben. Wo sonst ist das möglich? Solche Anstöße der Literatur können der Theologie helfen, die eigenen Sinnpotentiale neu zu entdecken.

 

Veranstaltungstipp:

Was fehlt, wenn Gott fehlt? Religiöse Suchbewegungen in der Gegenwartsliteratur. Studientag des Kath. Akademikerverbandes mit Jan-Heiner Tück, Samstag, 21. Oktober 2017, 10.00 bis 17.00 Uhr in Maria Saal.
Anmeldung: susanne.schlager@kath-kirche-kaernten.at oder 0676/8772-2410.

Zur Person:

Jan-Heiner Tück, geb. 1967, studierte in Tübingen, München, Luzern und Freiburg. Seit 2010 ist Tück Ordinarius für Dogmatik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, seit 2006 Schriftleiter der internationalen kath. Zeitschrift „Communio“. Er hat 2016 die „Poetikdozentur Literatur und Religion“ an der Uni Wien initiiert. Tück ist verheiratet und Vater von vier Kindern..

Buchtipp:

J.-H. Tück/T. Mayer (Hg.), Nah – und schwer zu fassen. Im Zwischenraum von Literatur und Religion, Herder (2017),
200 Seiten, gebunden, € 18,60.