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Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

Der Mensch will die ganze Wahrheit

Aus der Serie "Glaubenszeugen": Edith Stein

Jüdische Nonne, die die Religionen verbindet: Edith Stein, Philosophin und Ordensfrau, starb am 9. August 1942 in Auschwitz.

Edith Stein als junge Studentin (li.) und als Ordensfrau (Sr. Teresia Benedicta a Cruce, re.) (© Foto: Wikicommons; KK)
Edith Stein als junge Studentin (li.) und als Ordensfrau (Sr. Teresia Benedicta a Cruce, re.) (© Foto: Wikicommons; KK)

1891 in Breslau geboren, wuchs sie in einer jüdischen Kaufmannsfamilie auf. Die übliche Pubertätskrise kam mit dem dreizehnten Lebensjahr. Damals habe sie sich ganz bewusst das Beten abgewöhnt, berichtet sie später. Bis zu ihrem einundzwanzigsten Lebensjahr sei sie Atheistin gewesen. Der religiösen Erziehung im Hause Stein scheinen letztlich Wärme und Überzeugungskraft gefehlt zu haben. Riten und Bräuche ja, aber zu wenig Leben, zu wenig Tiefe. Und gerade die spontane Herzlichkeit war Edith so wichtig.
1911 schrieb sie sich an der Universität Breslau ein, Lehrerin wollte sie werden. Sie suchte eine Antwort auf die Frage, die sie immer stärker beschäftigte: Was macht den Menschen aus? Worin gründet die Würde einer Person?
In dieser Situation kam ihr wie ein Geschenk des Himmels ein Buch des Göttinger Philosophen Edmund Husserl in die Hände, ein Werk, das mit seiner radikalen Kritik am modischen Skeptizismus seinerzeit Geschichte machte.


Nur die ganze Wahrheit ist genug
Husserl wagte es, wieder von der Wahrheit des Seins zu sprechen und von der lange verpönten Möglichkeit, die Wirklichkeit zu erkennen. Edith Stein war begeistert. Sie übersiedelte nach Göttingen und fand sofort Anschluss an Husserls Kreis. Als Husserl 1916 einem Ruf nach Freiburg folgte, machte er sie zu seiner Assistentin. Edith Stein, die notorische Zweiflerin, hatte sich inzwischen dem Christentum geöffnet. 1922 ließ sie sich taufen. Sie war jetzt als Deutschlehrerin in Speyer und später als Dozentin in Münster tätig. Das Nichtariergesetz beendete 1933 ihre Lehrtätigkeit.


Stellvertretung
Noch im gleichen Jahr trat sie in Köln in den Karmelitenorden ein. Zur Spiritualität des Karmel gehört auch der Gedanke der Stellvertretung: vor Gott stehen für andere. Schwester Teresia Benedicta a Cruce (Teresia, die vom Kreuz Gesegnete) hieß sie jetzt. Ihr Judentum legte sie als Nonne keineswegs ab wie ein unmodern gewordenes Kleid. Im Gegenteil: Als Christin lernte sie den Gott, der ihr Volk durch seine ganze Geschichte prägte, erst richtig lieben. Die Schicksalsgemeinschaft zwischen Christen und Juden wollte sie leben. Am Ölberg bei Christus in seiner Todesangst ausharren und solidarisch mit ihrem gejagten, abgeschlachteten Volk sein – das wuchs für die jüdische Karmelitin immer zwingender zu einer unauflösbaren Einheit zusammen.

Asylverfahren als Trauerspiel
Um ihre Mitschwestern nicht zu gefährden, übersiedelte sie in der Silvesternacht 1938/39 nach Holland – doch 1940 marschierten die Nazis auch hier ein. Man bemühte sich darum, ihr eine Auswanderungserlaubnis in die neu-trale Schweiz zu verschaffen. Staatliche und kirchliche Bürokraten machten das Asylverfahren allerdings zu einem zeitraubenden Trauerspiel. Anfang August 1942 wurden alle katholischen Juden verhaftet und deportiert, schätzungsweise 1200 Menschen. Ein Mithäftling gab später zu Protokoll: „Die eine Nonne, die mir sofort aufgefallen war und die ich – trotz der vielen abscheulichen ‚Episoden’, deren Zeuge ich war – nie habe vergessen können, die Frau mit ihrem Lächeln, das keine Maske war, sondern wie ein warmes Leuchten aufging, ist diejenige, die durch den Vatikan vielleicht heiliggesprochen wird (...), die so ganz und wahrhaftig und echt war (...).“
Edith Stein wurde wahrscheinlich sofort nach ihrer Ankunft in Auschwitz, am 9. August 1942, vergast. Heute ist es Ediths Festtag im Heiligenkalender.
Christen und Juden könnten sich im gemeinsamen Respekt vor dem Sterben dieser Frau treffen, die sehr konkret und leibhaftig die Vernichtung ihres Volkes verkörpert. Für jene, die diese Vernichtung am liebsten vergessen machen oder doch zu einem ganz normalen geschichtlichen Ereignis neben anderen verharmlosen möchten, könnte die 1998 erfolgte Heiligsprechung Edith Steins eine Einladung zur Denk- und Trauerarbeit sein.

 

Ein Beitrag von Christian Feldmann