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Kärntner Kirchenzeitung - „Sonntag”

Den Weg des Lebens wiederfinden

Franz Sedlmeier im Sonntags-Interview

Der Augsburger Allttestamentler über die Aktualität prophetischer Worte, ein Leben in Fülle und weshalb der Prophet Ezechiel auch heute ein Beispiel für Seelsorger ist

Der Augsburger Allttestamentler Franz Sedlmeier im SONNTAG-Interview über die Aktualität prophetischer Worte, ein Leben in Fülle und weshalb der Prophet Ezechiel auch heute ein Beispiel für Seelsorger ist. (© Foto: SONNTAG / Georg Haab)
Der Augsburger Allttestamentler Franz Sedlmeier im SONNTAG-Interview über die Aktualität prophetischer Worte, ein Leben in Fülle und weshalb der Prophet Ezechiel auch heute ein Beispiel für Seelsorger ist. (© Foto: SONNTAG / Georg Haab)
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Ein Schwerpunkt Ihrer Vorträge in Tainach war „Ezechiel als Seelsorger“. Was ist für Sie ein Seelsorger?
Sedlmeier: Seelsorger sein bedeutet: mit Menschen unterwegs sein, die eine „Seele“ haben. Und Seele – hebräisch „nefesch“ – ist in der Bibel der Bereich der Kehle, durch den der Atem fließt. Wenn die Bibel von der Seele spricht, meint sie den Menschen, der leben will, der Sehnsucht, Hunger und Durst nach Leben hat. Es geht also um ein elementares Grundbedürfnis des Menschen. Der Seelsorger ist der, der den Menschen in seiner Sehnsucht nach Leben und Lebensfülle ernst nimmt und begleitet. Bei den Propheten kommt das auf verschiedene Weise zum Ausdruck, aber bei Ezechiel in einer ganz dramatischen Weise: in einer Zeit der Krise und der Zusammenbrüche, in der die Gefahr besteht, sich an falsche Sicherheiten zu klammern. Da weist Ezechiel zunächst einmal darauf hin: Das funktioniert nicht. Dem vergangenen Glanz nachzutrauern, trägt nicht in die Zukunft.

Das Buch Ezechiel beginnt mit drohenden Worten. Steht das diesem Anliegen nicht entgegen?
Sedlmeier: Generell finden sich in Prophetenbüchern Gerichtsworte und Heilsworte. Der Weg geht in aller Regel vom Droh- oder Gerichtswort zum Heilswort. Das Drohwort dient dazu, auf Leben hinzuweisen, das nicht stimmig ist. Nehmen Sie z. B. Ez 22: Jerusalem wird als Blutstadt bezeichnet. „Blutstadt“ steht für rücksichtslosen, gewalttätigen Umgang miteinander, worunter vor allem die schwachen Bevölkerungsschichten leiden. Gerichtsworte drücken das Nein Gottes aus zu einer Situation, die nicht tragbar ist. Sie mag vordergründig für eine bestimmte Gruppe vorteilhaft sein, weil diese auf Kosten der anderen lebt. Aber für das gesellschaftliche Zusammenleben und für die Schwächeren ist sie schädlich. Wenn nun vom Zorn Gottes die Rede ist, ist das für uns vielleicht anstößig. Der Sache nach ist es ein prophetischer Protest gegen eine Situation des Unrechts, die sich verfestigt und die verhindert werden soll.

Bei Ezechiel finden sich nicht nur solche Drohworte, sondern auch welche gegen Propheten und Priester, die dem Volk nach dem Mund reden.
Sedlmeier: Wenn es in Israel mit rechten Dingen zugeht, reden die Propheten gerade nicht nach dem Mund, wer auch immer der Adressat sein mag. Propheten hinterfragen vor allem die religiös und politisch Verantwortlichen. Kein Volk im Alten Orient hat in diesem Sinn Herrschaftskritik geübt wie Israel. Es gibt zwar auch bei den Propheten in Assur und Mesopotamien kritische Äußerungen. Doch geschieht dies nicht so deutlich wie in Israel. Deshalb reißen sich die Propheten auch nicht darum, Prophet sein zu dürfen, sie wehren sich in der Regel dagegen; sie wissen, dass das gefährlich ist.

Das ist Umkehr: dorthin gehen, wo das Leben ist.

Was ist der Beweggrund dieser falschen Propheten?
Sedlmeier: Der falsche Prophet sagt denLeuten, was sie gern hören, und lässt sich das gut bezahlen. Mit einer beifallheischenden Verkündigung versucht er gut anzukommen und sich sein Einkommen zu sichern. Ezechiel sagt dazu: „Sie sagen ‚Shalom, Friede!‘, aber da ist kein Friede.“ Ich kann auch heute, wenn ich soziales Unrecht oder die Umweltzerstörung sehe, nicht leichtfertig „Shalom!“ sagen. Da lüge ich. Es ist eine gefährliche Unwahrheit, die in eine heillose Situation führt. Dazu vermerkt Ezechiel kritisch: Wenn es schwierig wird, dann seid ihr, die sogenannten Friedenspropheten, nicht zu sehen, dann springt ihr für das Volk nicht in die Bresche. Von wegen Solidarität: In der Stunde der Not seid ihr nicht Hirten, sondern Mietlinge, die sich aus dem Staub machen, denen am Volk wenig oder nichts liegt.

Umweltzerstörung, soziale Ungerechtigkeit, Gewalt: Ähnelt die Gegenwart nicht der vom Propheten kritisierten Situation? Dazu die leeren Kirchen und der Mangel an Seelsorgern ...
Sedlmeier: Was Ezechiel uns sagt, kommt aus einer Epoche der Krise. Das Babylonische Exil war eine Zeit des großen Verlierens. Sicherheiten, die die Menschen über Jahrhunderte getragen und geprägt haben, waren zusammengebrochen. Hinzu kommt die damals übliche Theologie, die sogenannte Land-Gott-Theologie. Diese besagte: Das Schicksal einer Gottheit und das Schicksal einer Stadt sind deckungsgleich. Wenn die Stadt besiegt wird, ist die Gottheit dieser Stadt besiegt. Wenn ein Volk besiegt wird, hat sich die Gottheit dieses Volkes als nicht geschichtsmächtig erwiesen. Vor diesem Hintergrund war die Zeit des babylonischen Exils hochdramatisch, es war eine Zeit der Orientierungslosigkeit. Das Jesaja-Buch fasst diese Erfahrung der Gottferne in folgende Worte: „Der Herr hat mich verlassen, Gott hat mich vergessen.“ (Jes 49,14) Deshalb ist die Rede vom Gericht bei Ezechiel von elementarer Bedeutung. Sie besagt: Unser Gott hat uns in das Exil geführt. Wir wissen, dass wir Mist gebaut haben. Aber er, der uns dorthin geführt hat, ist selbst hier im Exil mit uns. Er ist auch in den Nächten des Lebens präsent, auch im Nicht-Verstehen. Er hat uns nicht nur in das Exil geführt, er führt uns auch hinaus in eine neue Zukunft. Nein, wir sind nicht vergessen, auch nicht in den Zeiten der Krise.

Also die Zusage, dass Gott gerade in der aussichtslosen Situation gegenwärtig ist und handelt?
Sedlmeier: So ist es. Wie das Gerichtswort zum Umdenken auffordert, so auch das Heilswort. Es fordert dazu heraus, nicht bei meinen eigenen begrenzten Möglichkeiten stehenzubleiben, sondern dem Gott des Lebens zuzutrauen, dass er in eine neue Zukunft führt. Ezechiel wird in unserer Liturgie nicht zufällig in der österlichen Bußzeit und in der Osternacht vorgetragen. Es geht um die Bereitschaft zur Umkehr und um einen von Gott her ermöglichten Neuanfang.

In unserer Kultur verbinden wir mit Umkehr automatisch Buße und Trauer ...
Sedlmeier: Wir sind geneigt, zunächst auf das zu schauen, was schlecht war. Das hat durchaus seine Berechtigung. In der Bibel ist „umkehren“ ein Alltagswort. Es meint: dahin gehen, wo das Leben ist. Im Vordergrund steht nicht so sehr das, was falsch war. Im Vordergrund steht vielmehr die Frage: Wo ist das Leben? Das ist das Anliegen von Umkehr: das Leben finden. Dorthin gehen, wo das Leben fließt. Mich dem Leben zukehren. Auch der Mensch von heute sucht das Leben. Und die Frage ist: Verstehen wir als Seelsorger es, den Menschen Wege zum Leben zu zeigen? Die großen Bilder der Hoffnung, die uns die Bibel vor Augen stellt, laden zum Leben ein. Sie sagen: Gott hält Größeres für dich bereit. Und sie ermutigen dazu, aufzubrechen.

 

Zur Person:

Univ.-Prof. Dr. Franz Sedlmeier, geb. 1954, studierte in Eichstätt, Münster und Rom. Nach seiner Priesterweihe war er mehrere Jahre in der Seelsorge tätig. 1990 Promotion, seit 2000 Ordinarius für Alttestamentliche Wissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Augsburg. Franz Sedlmeier war Referent bei den Tainacher Bibeltagen Mitte November.